Erstellt am: 30. 9. 2015 - 11:13 Uhr
Mit John Waters per Anhalter durch Amerika
Hitchhiking, wer macht denn das heute noch? Das hat sich Ausnahmefilmemacher John Waters auch gefragt und ist einfach losgezogen - und hat er ein Buch darüber geschrieben: "Carsick - John Waters Hitchhike Across Ameria" nennt sich das Werk des Kultregisseurs, das nun auch auf Deutsch erschienen ist.
John Waters:
Hat mit Trash-Filmen wie "Hairspray", "Pink Flamingos" und "Female Trouble" Werke für die Ewigkeit geschaffen.
Statt glattgebügelter Hungerhaken hat er für seinen Trash-Musical-Comedy-Filmklassiker "Hairspray" die (an ihrem Lebensende 170 kg) schwere Drag-Queen Glenn Milstead aka "Divine" für die Hauptrollen besetzt. Muse und Heldin. Der Rest ist Geschichte und Kunst.
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I'm Not Psycho
Die Reise beginnt im Mai 2012 und das Trampen hat sich John Waters einfacher vorgestellt. John Waters ist ja kein pleitegegangener Teenager, sondern John Waters. DER John Waters: Kultfilmemacher, fast 70 Jahre alt und mit Eleganz, aber auch mit einem großen Kontrollzwang gesegnet. O-Ton im Interview: "My hangovers are scedulled six months in advance!"
"I haven't felt this excited or scared for a long time. Maybe ever. I, John Waters, will hitchhike alone from the front of my Baltimore house to my co-op apartment in San Francisco and see what happens. Simple, huh? Am I fucking nuts? I'm sixty-six years old, for chrissake."
John Waters: "Carsick"
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner.
Erschienen bei Ullstein/
Farrar Straus Giroux
My Hobo-Homo Journey
Der Road Trip des Hairspray-Kultregisseurs und "Pope of Trash" ist gut geplant: Mit hübschen Pappkartons mit Aufschriften wie "Ich bin kein Psycho" und "Mid-Life Crisis", fünf Unterhosen, zwei Flaschen Evian und Studentenfutter im Gepäck. Aber natürlich geht es hier nicht um einen Erfahrungsbericht, wie man schnell von Baltimore nach San Francisco trampen kann und wo man unterwegs die besten Pommesbuden findet. Carsick ist vor allem eine Reise in die Gehirnwindungen der Film-Ikone. Los geht das Buch mit zwei "Fantasiekapiteln", die John Waters vor dem realen Trip geschrieben hat und die sich darum drehen, wie so eine Reise im besten Fall und im Worst Case aussieht. Danach folgt erst die Auflösung "Wie es wirklich war".
John Waters
Fun Facts:
Seit seinem 19. Geburtstag zieht sich John Waters jeden Tag seinen Schnurrbart mit einem Maybelline Augenbrauen-Mascara nach. Er hielt Filmseminare im Gefängnis ab, liest fünf Zeitungen pro Tag und über hundert Magazine im Monat. Außerdem ist er ein Fan von Justin Bieber und befreundet mit Ex-Manson-Family-Member Leslie Van Houten, die bis heute in Haft sitzt.
John Waters fantasiert von diversen perversen, zwielichtigen Seelen, die er on the Road trifft: Totgeglaubte Freunde, Serienmörder, neurotische, drogensüchtige Fans, hübsche Jungs und schneller Sex in billigen Motelzimmern. Und dann ist da dieser Typ namens "Ready Whip", der frisch aus dem Knast entflohen ist, einen unkontrollierbaren Ständer in der orangenen Knasthose hat und John Waters in seinem Truck packt:
"Just call me Ready Whip, 'cause my dick's ready and I'm always ready to whip it out." "I see," I say with open-minded astonishment. "But first I need some new clothes," he announces as he pulls into a tiny little town that doesn't have a name. Before I can begin to imagine shopping with my new host, he slams on the brakes when he sees a pitiful Laundromat that doesn't look as if it's been remodeled since the fifties. "Go in there and steal me some underpants."...WHAT?!"
Just Another Beautiful Fucking Morning in America
Carsick baut sich zu einer kolossalen Erzählung des Scheiterns auf. Die großen Visionen der Reise verpuffen alle in der Realität: John Waters landet unterwegs in deprimierenden Fast Food-Läden und Trucker-Tankstellen im Amerikanischen Niemandsland. Fantastische Wahnsinnige begegnen ihm kaum, maximal leicht neurotische Durchschnittsbürger mit durchschnittlichen Lebensläufen. Stundenlanges rumstehen im Regen ist angesagt. Auf Seite 250 im Buch packt John Waters eine Straßenkarte aus und stellt fest, dass er gerade einmal 500 Kilometer von seinem Ausgangspunkt in Baltimore entfernt ist.
"I stand here forever. I start to ration my Evian water. My back hurts from standing up straight for such a long time. I’m getting dehydrated. Pretty soon I’m going to drink my own urine. Come on people! Pick me up! If I can’t get a ride, I ought to shoot myself.”
John Waters
Fazit: 8 von 10 Lockenwicklern auf der Hairspray-Fan-Skala. Die (fiktiven) absurden Begegnungen hat man bildlich vor sich. In diesen Momenten hat man beinahe das Gefühl, gar neuen John Waters-Film zu sehen. Aber: Rein, raus. Die Menschen die John Waters unterwegs - real oder auch in der Fantasie - trifft, sind schnell wieder abgehakt und steril in einzelne Kapitel gepackt. Das moderne Leben ist in Form eines Blackberry immer mit dabei - das nervt. Ein Kerouac ist das nicht, falls sich das jemand vom Buch erwartet. Außerdem: Die Amerikanische Originalausgabe liest sich natürlich flotter. Das Lokalkolorit der Amerikanischen Highways lässt sich schwer ins Deutsche übertragen. Aber für Fans als auch John Waters-Frischlinge ist Carsick ein tolles Buch und eine Empfehlung.
Außerdem hat John Waters auch ein paar Tipps parat: Immer und überall Sonnenblocker auftragen, vor allem auf die kleinen Fingerknöchelchen. Stundenlanges Schilder und Daumen hoch halten verbrennt die schnell. Und jeder sollte zumindest einmal im Leben per Anhalter fahren: Es stellt angeblich den Glauben an das Gute im Menschen wieder her.
John Waters/ Carsick