Erstellt am: 27. 9. 2015 - 13:17 Uhr
Das erste Yeah
steirischer herbst,
bis 18. Oktober,
Graz, Vordernberg, Leoben und Hart bei Graz
Der Mann neben mir bietet mir mit einem Lächeln seinen Sitzplatz an. Denn die Sessellehne meiner Begleitung auf der Publikumstribüne im Dom im Berg gibt nach, so dass wir Plätze tauschen. Drei Minuten später steht der freundliche Sitznachbar auf, nimmt Haltung an und zieht sich sein T-Shirt aus. Schuhe, Hose und Unterhose folgen. Aus dem Zuschauerraum machen sich die PerformerInnen auf: "7 Pleasures" ist das diesjährige herbst-Stück mit Nackten. Und es ist das Beste.
Das Festival für neue Kunst, der steirische herbst, bringt drei Wochen hindurch Performances, Theater, Tanz, Ausstellungen und Konzerte in die Steiermark. Dieses Wochenende ging es los. Bisherige Besuche beim steirischen herbst endeten in teils großen Glücklichkeiten. Die Neugier treibt BesucherInnen an.
Selten war Nacktheit auf der Bühne derart ohne Peinlichkeit, wie gestern bei dieser Premiere: Bei "7 Pleasures" setzen sich die BesucherInnen in der letzten Sitzreihe auf die Lehnen ihrer Stühle, um alles genau zu verfolgen. Zwölf PerformerInnen bewegen sich mit- und übereinander, werden zu einem Organismus, der sich von einer Box über eine Couch zu einem Tisch fortbewegt. Erst sehr langsam, dann zu Trommelrhythmen, banging. Dabei fassen sich die DarstellerInnen an Beine, Arme, Schulterblätter, doch nicht an jene Stellen, an denen man von "unsittlichen Berührungen" sprechen würde und doch kommt es ganz anders an. Es gibt lustige Momente, es ist intensiv und ein Schauspiel. Begehren erstreckt sich auf eine Yuca-Palme als Zimmerpflanze. Eineinhalb Stunden lang, kein einziges Wort, Atemgeräusche im Sex-Takt. Die dänische Choreografin und Tänzerin Mette Ingvartsen wollte Klischeebilder um Sexualität und Nacktheit aufbrechen. Wie ihr das gelingt, sollte man sich unbedingt anschauen.
Marc Coudrais
Die offizielle Eröffnung
Auch der Schauspieler Johannes Silberschneider war einige Minuten nackt auf der Bühne in der Helmut-List-Halle. Ungewöhnlich klassisch für den herbst war das Setting zur Eröffnung Freitagabend. Silberschneider trägt mit "Spectator of the Gardenia oder Der Tag wird kommen" achtzig Minuten alleine einen Text des Schriftstellers Josef Winkler vor. Tiraden gegen die "Weichmachergesellschaft" und Kärntner Kindheitserinnerungen wechseln einander ab. Es ist ein Aufschreiben und ein Anschreiben gegen Land und Leute, definitiv kein Feel-Good-Stück. Dazu hat Johannes Maria Staud die Musik komponiert. Das Orchester sitzt auf der Bühne, es gibt keinen Graben und Visuals in einer, an die 1920er Jahre erinnernden Ästhetik erscheinen auf Scherben-förmigen Projektionsflächen. Paul Éluards Gedicht "Liberté" entdecken Kundige zitiert: auf alles "j'écris ton nom / schreib ich deinen Namen". Kultur macht mit Verweisen ja gleich drei Mal so viel Freude.
Blicke auf die Kunst erhaschen oder Eröffnungen im Stundentakt
Überraschend wird es, wenn die bisherigen Annäherungen nicht mehr sofort greifen. Was ist Original und wie könnte man die Kopie unterscheiden? Das könnte man sich angesichts der Personale des Künstlers Xu Zhen im Kunsthaus Graz überlegen. Xu Zhen produziert mit seiner "Madeln Company" Kunst, die er selbstverständlich verkauft. "Madeln" steht für die Herkunftsbeschreibung "Made in China" und schließt das chinesische Wort für Firma mit ein.
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Leider fliegt Xu Zhen ungern, darum ist er leider nicht persönlich anwesend, hat aber vier Videoarbeiten und eindrucksvolle Objekte sowie einen Mini-Supermarket nach Graz geschickt. Im ShanghaiArt Supermarket können BesucherInnen tatsächlich Dinge kaufen - anders also als bei der Biennale in den Giardini in Venedig, wo das kanadische Kollektiv BGL auch einen Supermarkt eingerichtet hat. Kapitalismuskritik, Globalisierungskritik, Systemkritik, doch man ist angetan von diesen Arbeiten.
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Jetzt oder später
Mit dem Biennale-Leitmotiv der "All the world's futures" könnte man zum diesjährigen herbst-Motto "Back to the future" Anknüpfungspunkte finden. Der traditionelle Ausstellungsrundgang mit Eröffnungen im Stundentakt macht deutlich, wie gut es ist, dass der herbst drei Wochen dauert. Allein die Ausstellung "Reliqte, Reloaded - Zum Erbe christlicher Bildwelten heute" im Kulturzentrum bei den Minoriten bespielt zwei Stockwerke mit Kunst. Alleine mit den, in all den Ausstellungen der Grazer Kunstinstitutionen zum steirischen herbst gezeigten Videoarbeiten könnte man sich in diesen Wochen beschäftigen und wäre beschäftigt.
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Weiter geht's in der Obersteiermark
Zur Konzertreihe "Soundtracks" kommen u.a. die Young Fathers zum steirischen herbst.
Heute eröffnet die Porubsky-Halle in Leoben, die von der deutschen Künstlerin Ulla von Brandenburg als insgeheim zweites Festivalzentrum gestaltet wurde und auch in Vordernberg eröffnen Ausstellungen. Heute Abend gibt der Nino aus Wien ein Konzert in Leoben. Im Kunsthaus Graz spielten gestern Nacht Die Buben im Pelz auf, mit Monsterheart, Boris Bukowski und Dorit Chrysler. Von einem Coverprojekt zu Velvet Underground zu sprechen, wäre fast beleidigend. Großes Glück, wenn David Pfister und Monsterheart "Tiaf wia a Spiagl" singen. Was Die Buben im Pelz mit ihren Interpretationen und vor allem Übersetzungen schufen, ist wunderschön. Sonntag Morgen, keine Sorgen.