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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

23. 9. 2015 - 17:09

Das Traiskirchen Berlins

Das sogenannte LaGeSo ist die Erstannahmestelle für Flüchtlinge in Berlin. Seit Wochen herrschen dort chaotische Zustände. Behörden, Antragssteller und Helfer sind überfordert. Ein Lokalaugenschein.

9 Uhr früh. Kaum betrete ich das Gelände, bin ich von Menschen umringt. Sie fuchteln mit Zetteln herum und sprechen mich in fremden Sprachen an. Aber ich verstehe auch so: Die vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) ausgehändigten Papiere sind in deutscher Sprache abgefasst. Keiner der Männer kann das lesen. Noch ehe ich ein Foto knipse oder das Mikrophon einschalte, werde ich zur Auskunftsperson ohne Ahnung. Kein Beamter weit und breit. Nur eine ältere Frau von Moabit Hilft versucht auf Deutsch Ordnung in die Menge zu bringen. Niemand versteht sie. Vor den Absperrgittern drängen sich hunderte Männer. Die Frauen daneben kümmern sich um die Kinder. Viele schlafen auf Plastikmatten am Rande des großen Platzes.

Heavy-Metal-Paar aus Syrien

Christian Lehner

Dana*, Heavy-Metal-Gitarristin aus Syrien und ihr Freund warten seit Wochen auf eine Bearbeitungsnummer.

*Namen von der Redaktion geändert.

"Does anyone speak Englisch?", frage ich in den Menschenknäuel. Ein Mann mit Fliegerbrille, den ich auf den ersten Blick mit einem Deutschen verwechsle, zeigt auf. Er stellt sich als Arif* aus Syrien vor. Arif hat vor wenigen Wochen sein Ingenieursstudium der Elektrotechnik beendet und ist dann geflohen. "Alle Männer müssen nach dem Uniabschluss in Assads Armee, da habe ich mich auf den Weg übers Mittelmeer gemacht." Diese Geschichte sollte ich im Laufe des Tages noch mehrmals hören.

Seit drei Wochen kommt Arif jeden Tag hierher. Einmal hat er es sogar in das Innere des Amtes geschafft. "Ich habe einen Gutschein für eine Unterkunft bekommen und ein U-Bahn-Ticket. Und diesen Zettel hier." Er reagiert mit einem müden Lächeln, als ich übersetze, dass sein nächster Termin erst am kommenden Tag ist. Dann erkläre ich, was mir die Frau von Moabit Hilft gesagt hat: "Ihr seid hier in der falschen Reihe. Dort drüben müsst ihr euch für die Nummenausgabe anstellen." Am Gelände gibt es keine logischen Zuordnungen, keine mehrsprachigen Tafeln. Von Beamten fehlt auch weiterhin jede Spur. Es ist 10 Uhr. Mittlerweile drängen sich hunderte Menschen auf dem Platz und es werden jede Minute mehr.

Der große Stau

Ist man erst einmal im Besitz einer Nummer, heißt es weiter warten. Doch man hat zumindest die Gewissheit, dass der Fall bearbeitet wird. Oder auch nicht. Ein Mann mit mächtigem Schnurrbart ist außer sich. Er brüllt mich auf Englisch an, dass er seit vier Uhr früh hier ausharre und dann, trotz Nummer, einfach abgewiesen wurde. Seit Tagen schlafe er in den Parks rund um das LaGeSo. "Und das soll die berühmte deutsche Ordnung sein?", empört sich der Mann aus Pakistan. "Niemand sagt einem etwas. Es gibt keine Dolmetscher. Keine Ahnung, wie lange ich das noch aushalte, es wird mittlerweile sehr kalt in den Nächten." Heftiges Nicken und Sprachenwirrwarr im Männerkreis, als er die Ausführungen in seiner Landessprache wiederholt. Ich weiß nicht, was ich den Männern sagen soll. Ein anderer hält mir eine weitere Vorladung unter die Nase. Das Datum lautet auf vergangenen Freitag.

Das LaGeSo ist die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in Berlin. Hier kommen sie zusammen: aus Syrien, Afghanistan, Bosnien, Albanien, Afrika. Ich bemerke auch Asiaten unter den Antragsstellern. Wer den langwierigen Registrierungsprozess geschafft hat, erhält Unterkunft, BVG-Tickets, einen Krankenschein, weitere Sozialleistungen und eine Berlin-Card. Aber das Wichtigste: Erst mit dieser Registrierung kann beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Asylantrag gestellt werden. Es ist eine hohe Hürde, denn dort stapeln sich mittlerweile 300.000 unerledigte Anträge. Der Weg ins offizielle Deutschland kann selbst von Berlin aus noch weit sein.

Das LaGeSo liegt im Stadtteil Moabit nur wenige 100 Meter nordwestlich vom Regierungsviertel. Die Anlage des ehemaligen Krankenhauses umfasst mehrere Bauten. Das Geschehen konzentriert sich jedoch auf das sogenannte Gebäude A, ein schmuckloser Bürokasten im Siebzigerjahre-Stil. Hier bearbeiten Beamte zwischen 100 bis maximal 300 Fälle pro Tag – je nach Krankenstand des dauerüberforderten Personals. Unten, am Platz davor, stauen sich bis zu 1.000 Menschen pro Tag. Das Verhältnis wird von Tag zu Tag schiefer. Allein im September sind 8.000 Flüchtlinge in Berlin angekommen. 5.000 davon sind Jugendliche.

Gerade sie entsprechen kaum dem Klischee vom Flüchtling als abgerissene Figur. Im LaGeSo sichte ich nicht wenige Basecaps, Hoodies und sogar Emos und Hipsters. Ich spreche eine Gruppe Burschen mit Undercut-Frisuren und Daunenjacken im Uniqlo-Style an. Ein Schulterzucken. Ein Lächeln. "Sänk you Germany."

Aus der Clique schält sich ein Pärchen. Dana* spielt Gitarre in einer Metal-Band. "Der Krieg hat uns in alle Winde zerstreut", sagt die 23-Jährige auf Englisch. "Ich weiß nicht, wer noch lebt oder bereits tot ist." Sie und ihr Freund seien zwischen die Fronten der Da'ish (arabisch für IS, Anm.) und des Assad-Regimes geraten und geflohen. Die Ersparnisse sind futsch. Was nicht für Schlepper draufgegangen ist, hätten ihnen ungarische Polizisten abgenommen. Seit drei Wochen ist das Paar nun in Deutschland. Noch immer warten die beiden auf die heiß ersehnte Registrierungsnummer. "So wie das hier aussieht, wird das heute wieder nichts", sagt Dana.

LaGeSo

Christian Lehner

Dass die Bundesregierung plant, die Asylbestimmungen zu verschärfen, hat sich bis zu den beiden Syrern durchgesprochen. Und diese Nachricht sorgt für schlechte Stimmung unter den Flüchtlingen. "Ich glaube, die Deutschen stoßen allmählich an die Grenzen des Machbaren", sagt Danas Freund. "Und nicht alle verhalten sich korrekt. Ich habe vorhin mit einem Mann gesprochen, der behauptet, aus Syrien zu kommen, dabei spricht er eindeutig mit irakischem Akzent." Als ob der Irak ein sicheres Herkunftsland wäre.

Plötzlich saust eine Kellnerin vorbei. Geschickt balanciert sie ein grünes Plastiktablett mit Wasserbechern über die Köpfe der Wartenden. Julia ist Mitglied der Bürgerorganisation Moabit Hilft. Die Freiwilligen versorgen die Flüchtlinge mit Wasser und organisieren medizinische Hilfe. Julia bahnt sich einen Weg zu den Absperrgittern vor dem Amt. Dort stehen die Menschen seit Stunden in der Schlange. "Hier wird Wasser am dringendsten benötigt", sagt die Studentin. Alle paar Stunden zieht der Notarzt Erschöpfte aus der Menge – meistens Ältere oder Frauen. Am Gitter beobachte ich Securities. Es sind die einzigen, die ich während meines LaGeSo-Besuchs zu Gesicht bekomme. Sie achten darauf, dass die Wartenden nicht die Zäune umkippen. Am nächsten Morgen sollte eine Kollegin auf Radio Eins erzählen, dass die Absperrung noch am selben Tag gestürmt wurde und die Polizei einschreiten musste.

Berlin hilft

Vor einem Seitentrakt sitzt Laszlo Hubert in der Nachmittagssonne. Er genießt die kurze Ruhe. Hubert ist der Chefkoordinator von Moabit Hilft. Im Hintergrund entladen seine KollegInnen einen Kleinlaster, der Spenden vom Bodensee nach Berlin gebracht hat. Hier, vor dem Gebäude R, ist alles ruhig. Moabit Hilft ist seit Wochen vor Ort und hat gemeinsam mit anderen Organisationen wie der Caritas oder den Johannitern eine Infrastruktur des Helfens aufgebaut. Die Abwesenheit der Stadtverwaltung erklärt Hubert so: "Für gewöhnlich braucht man keine ärztliche Versorgung und keine Lebensmittelausgabe, wenn man in ein Amt geht, einen Termin hat und diesen wahrnimmt. Das große Versäumnis des Staates besteht darin, dass er nicht im Stande ist, die große Anzahl von Fällen, die er hier täglich vor die Nase geknallt bekommt, abzuarbeiten. Dadurch ensteht dieser große Stau."

Unter den Freiwilligen lerne ich Rentner und Studenten kennen. Einige Berufstätige haben sich extra Urlaub genommen. Doch die Helfer sind längst an die Grenzen der Belastbarkeit gestoßen. "Wir haben die Lebensmittelausgabe eingestellt. Es ist einfach zu gefährlich geworden. Letzte Woche wurde ein Mitarbeiter zusammengeschlagen", so Hubert. Der Staat reagiere zwar, aber zu langsam. "Sie hinken stets 30 bis 50 Tage hinter den aktuellen Anforderungen her. Wir brauchen dringend mehr Sachbearbeiter und Sicherheitspersonal vor Ort." Das Helfen will er sich aber nicht nehmen lassen. Auch die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sei ungebrochen: "Der Berliner hat eine große Schnauze, ein großes Herz und einen großen Kofferraum", sagt Hubert, bevor er zu einer Teambesprechung aufbricht.

Laszlo Hubert von Moabit Hilft bei einer seltenen Pause.

Christian Lehner

Laszlo Hubert von Moabit Hilft bei einer seltenen Pause.

Am Eingang des LaGeSo baumelt ein Schild an einer Kette: "Es werden keine Kleiderspenden und Lebensmittel angenommen". Doch niemand hält sich an diese Aufforderung. Anstatt die Spenden bei Moabit Hilft zu deponieren, rollen immer wieder Fahrzeuge direkt auf den Platz vor das Hauptgebäude. Die Spender kommen aus allen Bundesländern. Sogar ein Auto aus Holland ist dabei. Der Fahrer bittet mich, ihn beim Verteilen der Schlafsäcke zu fotografieren. Schnell bricht ein kleiner Tumult aus. Die Ordnerin von Moabit Hilft schüttelt den Kopf. "Viele dieser Spenden landen im Müll, weil sie einfach nicht gebraucht oder falsch verteilt werden."

Plötzlich fliegt die Schiebetür eines kleinen Transporters auf. Dutzende Packungen Kartoffelchips segeln in die Menge. Wieder ein Tumult. Kinder stürmen heran. Sie schreien, lachen, weinen. Die Stimmung auf dem Platz schwankt zwischen Freude, Ausgelassenheit und Aggression. Schließlich schicken die Leute von Moabit Hilft den ungeordneten Hilfskonvoi vors Gelände. Dort, auf der viel befahrenen Turmstraße, geht das absurde Spiel von vorne los. Es erinnert an die menschenunwürdigen "Fütterungsaktionen" der ungarischen Polizei in Röszke.

Lageso

Christian Lehner

Kartoffelchips sorgen für Chaos

Die Überforderung der Behörden, Helfer und Flüchtlinge im LaGeSo ist mittlerweile so groß, dass sich für den Tag meines Besuchs 40 Bundeswehrsoldaten zur Unterstützung der Verwaltungsbeamten angesagt haben. Von ihnen war jedoch den ganzen Tag über nichts zu sehen. Am nächsten Morgen erfahre ich, dass die Registrierung der Soldaten nicht geklappt hat. Es ist ein böser, zynischer Witz, der das Dilemma vor Ort dennoch trefflich beschreibt.

Am späten Nachmittag verlasse ich das LaGeSo. Am Ausgang treffe ich noch einmal Dana und ihren Freund. Für heute haben die beiden aufgegeben. Morgen wollen sie wieder kommen. Schlafen könnten sie bei Freunden, sagt Dana, ehe die zwei Syrer in der Menge auf der Turmstraße verschwinden.

30.000 Flüchtlinge sind seit Beginn des Jahres in Berlin eingetroffen. Alle Erstankömmlinge müssen durch das Nadelöhr in Moabit.

Noch am Montag hat der Berliner Bürgermeister eine Neukoordination der Flüchtlingshilfe angekündigt. Über 360 Beamte sollen aus anderen Dienststellen bereitgestellt werden. Sogar ein pensionierter Polizeichef wurde aus dem Ruhestand geholt. Das ist auch bitter notwendig: Am Dienstag flogen erstmals Steine im LaGeSo.