Erstellt am: 23. 9. 2015 - 11:58 Uhr
Serviettenwerfen im Tschalgaclub
"Na los, es ist höchste Zeit, mich in einem Tschalgaclub mitzunehmen! Dort, wo die Leute Servietten werfen!"
Arabella aus Vorarlberg hört nicht auf zu meckern, seitdem sie mit uns nach Bulgarien gekommen ist. Wir haben ihr bereits alles gezeigt – sowohl einsame Balkandörfer als auch wunderschöne Schwarzmeerstrände. Aber die Servietten lassen sie nicht los. Alle unsere Freunde haben versucht, sie zu überreden, dass die "normalen Leute" so eine Art von Unterhaltung verachten. Sie aber will auch die "nicht normalen Leute" sehen. Ich hatte also keine andere Wahl und ging das erste Mal in meinem Leben in einen Tschalgaclub.
In den Club "4as Pik" in Varna kommt man zunächst durch große schwarze Vorhänge rein. Danach folgt eine weitere Mauer aus riesigen kahl geschorenen Türstehern in schwarzen Anzügen. Der Club ist durch einen Catwalk in zwei Teile geteilt. Im hinteren Teil werden die Tschalgavideos gezeigt, die eher Softpornos als Musikvideos ähneln. In der Mitte steht der DJ, der ein Fußballtrikot des AC Mailand an hat. Auf seinen beiden Seiten wackeln im Musikrhythmus zwei Stripperinnen. Die Preise sind viel höher als in jedem anderen Lokal in Varna.
Jason Eppink (CC BY 2.0)
In solchen Clubs gilt es als toll, Geld schnell auszugeben. Damit wird Wohlstand demonstriert. In den Tschalgasongs wird über Menschen gesungen, die ihr Geld verschwenden, weiße Mercedes fahren und sich gegenseitig ihre Liebhaberinnen stehlen. Jeder Tschalgafan trinkt nur Whisky. Eine andere Art von Alkohol ist für einen bulgarischen Neureichen unwürdig. Oder für jeden, der als neureich rüberkommen will. Ich vermute, dass es unter den Besuchern Leute gibt, die da regelmäßig ihr ganzes Gehalt verschwenden und den Rest des Monats mit Brot und Kartoffeln durchhalten müssen. Für eine Nacht aber sind sie glänzend.
Am Höhepunkt der Party besteigen die Barkeeperinnen die Bar, werfen ihre Oberteile weg und werden auch zu Stripperinnen. Dann fangen auch an, die Servietten zu fliegen. Hunderte Servietten werden in die Luft geworfen und die Kulisse wird surreal. Ein Stapel ganz gewöhnlicher Servietten, die im Supermarkt einen Euro kosten, kostet hier 50 Euro. Das Serviettenwerfen ist eine Metapher eines Lifestyles, bei dem man sein Geld einfach so auf den Boden wirft.
Angeblich stammt dieser Brauch vom benachbarten Griechenland, wo die Leute Teller bestellten, um sie auf dem Boden zu werfen. Nach der Finanzkrise wurde das Tellerwerfen verboten und die Leute haben angefangen, Blumen zu kaufen, um sie auf dem Boden zu werfen und so ihren Reichtum zu demonstrieren. In Bulgarien werden statt Teller und Blumen Servietten auf den Boden geworfen.
Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass er einmal in einer Tschalgadisko in der nordwestlichen bulgarischen Stadt Vidin, in der ärmsten Region Bulgariens war. Seine Rechnung war höher als jener Betrag, den normalerweise die Menschen hier in Vidin im Monat verdienen. Deshalb bekam er ein Geschenk, persönlich vom Diskochef überreicht – ein Stapel Servietten. Diese Servietten sahen aus wie 100-Dollar-Scheine. In der Mitte war aber nicht Benjamin Franklin zu sehen, sondern der Chef der Disko in Vidin. Mein Freund bedankte sich und der Chef bot ihm daraufhin besondere Extra-Services des Lokals an – einen Schlagzeuger, der dir persönlich was vortrommeln kann oder eine persönliche Stripperin.
Herman Yung (CC BY-ND 2.0)
Als ich von der Toilette komme, macht Arabella aus Vorarlberg gerade Fotos vom Tschalgaclub. Das macht jenes Separée mit den meisten Servietten am Boden aufmerksam. Dort sitzt ein Männerklan, alle angezogen in Weiß. Arabella holt mich, damit ich vor ihren neuen Freunden übersetze, da diese nicht gut Englisch sprechen. Als sie mit mir zum Separée hingeht, springen alle Männer auf – sie sehen in mir einen Konkurrenten für Arabellas Herz. Ich versuche Arabella zu erklären, dass diese Männer kriminell aussehen, aber sie macht weiter Fotos von ihnen. Sie schauen mich böse an und ich ziehe mich zurück, um nicht geschlagen zu werden.
Die Männer versammeln sich um Arabella. Sie tanzt mit einem davon. Er hält einen Stapel Servietten in einer Hand, die er auch gleich in die Luft wirft. Ich nutze den Serviettentornado, um Arabella wegzuziehen. Kurz danach sind wir draußen. "Du hast mir den schönen Abend verdorben!", sagt sie. Ich verstehe, dass das Serviettenwerfen ansteckend sein kann. "Gehen wir!", sage ich. "Aber wenn du unbedingt Servietten werfen willst, kannst du ja zurückgehen!" Wir gehen dann aber doch nach Hause.