Erstellt am: 22. 9. 2015 - 19:45 Uhr
"Wegzugehen ist das schönste Ziel"
FM4 Wortlaut 15 -
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"Es war Sturm in mir, wie man so schön sagt, wenn man schon etwas sagen muss, und das musste ich. Ich bat also um ein Gespräch und sagte: Frau Chefin, es ist Sturm in mir. Das musste sie akzeptieren.
Ich gehe hinaus in den Alsergrund. Ein dicker Mann liegt divenhaft, den Kopf in eine Hand gestützt, seitlich auf einer öffentlichen Bank. Er pafft mit rosaroten Schmolllippen an einer Zigarette. Die Sonne scheint.
Ich freue mich – er gefällt mir, der so herrlich entspannte Dicke und das Leben hier draußen. Ich bemerke ein laues Lüftchen; der Sturm hat bereits nachgelassen.
Ich erfreue mich – wie man so schön sagt, oder irgendwann einmal gesagt hat – an meinen zügigen Schritten, fort von einem Ort, in eine entgegengesetzte Richtung. Denn wegzugehen ist das schönste Ziel."
Wolfgang Bohusch
Mit einem Spaziergang beginnt die Geschichte "Diego, mein Schatten. (Und ich)" von Valerie Melichar.
Und auch die in Wien geboren und dort lebende Autorin spaziert sehr gerne. Durch Wälder und Straßen – im Yspertal in Niederösterreich oder in Wien Fünfhaus. Vorzugsweise hört sie dabei auch Musik. In letzter Zeit vor allem Beachhouse.
"Entschuldigen Sie" frage ich zaghaft.
Die fitte Mittvierzigerin, die ihre linke Wade an meiner Parkbank dehnt, nimmt einen Ohrstöpsel heraus und hebt die Augenbrauen. "Entschuldigen Sie. Ich wollte nur fragen: Laufen Sie aus politischen oder aus persönlichen Gründen?" Sie tippt sich an die Schläfe und läuft weg. Dazu habe ich auch oft Lust.
Der dritte Platz bekommt:
- Euro 500 (Zur Verfügung gestellt von Paperblanks)
- Veröffentlichung im Wortlaut-Buch, das im Herbst im Luftschacht Verlag erscheinen wird
- DER STANDARD Goodie Bag
- Ein Jahresabo der Literaturzeitung Volltext
- Ein Jahresabo des Magazins Datum
- FM4 Goodies der Saison
- Ein Notizbuch von Paperblanks
Weg
Weg war Valerie Melichar auch schon öfter. Allerdings zum Studieren. In Großbritannien studiert sie Creative Writing: Erst in Norwich, dann in Newcastle. Wieder in Wien wundert sie sich erst über ihr Deutsch, schreibt aber jetzt doch wieder in ihrer Muttersprache. Zumindest Prosa und Theater. Lyrik verfasst sie weiterhin auf Englisch.
Ihr Geld verdient sich Valerie als Übersetzerin. Sie arbeite Teilzeit und führe kein teures Leben, erklärt sie. Heuer hat sie ein Stipendium für das Schreiben eines Theaterstücks bekommen. "Ein großer Luxus und eine große Chance, um mich wirklich auf das Schreiben zu konzentrieren."
Ihre Theaterarbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet: Exil-DramatikerInnen-Preis 2012; Heidelberger Stückemarkt 2013; Das Neue Stück, Badisches Staatstheater Karlsruhe 2013; Forum Junger Autoren, Theaterbiennale Wiesbaden 2014; Wiener Dramatik Stipendium 2015.
"Letzten Frühling war ich an einem anderen Ort, einem kleinen Ort, in einer Marktgemeinde in einem weiten Tal, in einem großen Garten, der sich von der Rückseite des Hauses bis hinunter zum Bach erstreckte. Dort schaute ich dem Frühling beim Erwachen zu, wie man so schön sagt, schaute jeden Tag zu, wie es um mich herum sprießte und sproß, saß da, immer gleich, ich jahreszeitenloser Stadtmensch in meinen coolen Turnschuhen, schaute zu, wie die Bäume und Sträucher sich öffneten, weiß, rosa, gelb, blau. In der Wiese wuchsen Binnenmeere von Vergißmeinnicht.
Dann kam der Sommer und dann kam der Herbst, ich ging weg und kam zurück und ging wieder weg, und ich ging an einen neuen Ort, in eine Stadt im Süden mit Sonne im November, und auch von dort wieder weg, und so weiter und so fort, und so fort. Was ich nicht wusste, war, dass mich jemand suchte.
wild
Das Thema "wild" habe ihr gut gefallen. Spontan habe sie ihre Ideen zu dem Thema aufgeschrieben und kam so zu dieser Figur, die aus- und aufbricht und etwas Neues erlebt. Dazu komme das Wilde in der Großstadt. Über einige Wochen hinweg habe sie immer wieder an der Geschichte gearbeitet.
Ein Schatten folgt mir, schon seit Stunden, schon seit dem Platzerl mit dem Dicken, nicht unauffällig genug, vielleicht mit Absicht, folgt er mir, seit dem Alsergrund, seit Jahren schon. In den Augenwinkeln huscht er vorbei an mir.
Die Jury
Ebenfalls ratsam ist ein großes Besäufnis, um das Neue einzuläuten, zu zelebrieren. Hierfür eignet sich zum Beispiel: Gabis Bar am Gürtel. Ich trete ein durch das neongeschmückte Tor. Die Männer schauen. Das tun sie immer. Wenn man zurückschaut, sollte man den Blick sorgfältig wählen. Sie wittern Furcht wie Hunde, ein Frauenblick genügt, um sich als Opfer auszuweisen. Nichts von dem in meinem Gesicht.
Ich setze mich an die Bar, bestelle ein Bier und schiele, während ich warte, nach links, dann rechts, spüre dabei die Blicke der Männer auf mir, von links, rechts, hinten, vorn, sie schauen, weil sie nicht anders können, die Männer, sie können nichts anderes als schauen.
Die Jury
"Sprachlich sehr gelungen" urteilt die Jury. Interessant, originell mit einem schönen Fluss. Auf extrem rhythmische Art und Weise würde ein Aufbruch dargestellt. "Er bewegt sich in Kreisen. Kreiselt und wird ein bisschen verrückt." Weiters lobt die Jury den unkonventionellen Aufbau und die ebenso unkonventionellen sprachlichen Bilder."Wie der Text überhaupt etwas sehr leichtes hat, auch wenn er schwierigere Themen behandelt und sich selber nicht ganz so ernst nimmt."
Radio FM4
Wortlaut
Der FM4 Kurzgeschichten-Wettbewerb.
Thema: "wild"
- Die großen Zehn
- Platz 3: Valerie Melichar "Diego, mein Schatten Und ich"
- Platz 2: Michaela Davin "Schokoladeleben"
- Platz 1: Marcus Fischer "Wild campen"
Das kenn ich schon, das interessiert mich nicht, die alte Leier. Dann schon eher rechts, der halbseidene Halbitaliener, klein und zäh und kampfbereit, das signalisiert die Narbe diagonal vom Auge zum Ohr, und das Funkeln im Blick, das, wie so manches, aber auch vom Schnaps kommen kann.
"Elvira", sage ich und reiche ihm die Hand. Er küsst sie wie erwartet und schweigt. Ich schaue in sein Funkeln. Er legt eindringlich einen Finger auf die Lippen. "Keine Namen", flüstert er. Ich bekomme mein Bier, nicke ihm zu und leere es in einem Zug. Jetzt bin ich angekommen, jetzt gehöre ich dazu. Er schwitzt und sieht immer wieder zur Tür. Auf seiner gebräunten Haut ein Schimmern, ein Glanz dieser Mann, auch das Haar aalglatt. "Man verfolgt mich. Aus politischen Gründen", sagt er. "Meine Ex-Frau. Du verstehst." Er zerdrückt einen Geldschein auf der Bar, tritt an mich heran, ganz nah, seine Schulter an meinem Busen, und flüstert heiß in mein Ohr. "Ich halte es an keinem Ort mehr aus. Ich muss weiter", zischt er. "Stoische Wilde, verwahrloste Schöne – du hast mich nicht gesehen."
Valerie Melichar liest ihre ausgezeichnete Geschichte "Diego, mein Schatten. (Und ich)" am Freitag, 25. September, bei der FM4 Wortlaut Party im Phil in Wien um 20 Uhr.