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Hanna Silbermayr

Lateinamerika, Migration, Grenzen und globale Ungleichheiten

21. 9. 2015 - 11:02

Ein neuer Klassenfeind

Rund um einen Grenzstreit zwischen Kolumbien und Venezuela brodelt es. In Caracas wurde unterdessen der Schuldige der Wirtschaftskrise im eigenen Land bereits gefunden.

Es ist ein gewagter Vergleich, den Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe vor drei Wochen in einer Rede nahe der venezolanischen Grenze anstellt: Venezuela wäre eine Diktatur, verantwortlich für einen Genozid am kolumbianischen Volk, ähnlich dem jüdischen Holocaust. In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País untermauert er seine Aussagen. Er geht gar so weit, Venezuelas Präsident Nicolas Maduro mit Adolf Hitler zu vergleichen. Ein zweifelhafter Vergleich, dessen Ursprung in einem Grenzstreit liegt, der derzeit die höchsten Politikebenen der südamerikanischen Nachbarländer beschäftigt.

Nahe der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien.

© Hanna Silbermayr

Dunkle Wolken ziehen Nahe der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien auf.

Seinen Ausgang nahm der Konflikt Ende August mit dem Angriff mutmaßlich kolumbianischer Paramilitärs auf venezolanische Soldaten, die im Grenzgebiet gegen Schmuggler im Einsatz waren. Als Antwort auf die Attacke ließ Venezuelas Präsident Maduro am 22. August die Grenzübergänge zu Kolumbien bis auf unbestimmte Zeit schließen und verhängte in Teilen des Grenzgebiets den Ausnahmezustand - eine Maßnahme, die seit Inkrafttreten der aktuell gültigen Verfassung noch nie Anwendung fand. Er wolle dem kolumbianischen Paramilitarismus ein Ende bereiten, sagte Maduro und schickte kurzerhand Militär, um in den Elendsvierteln nahe der Grenze aufzuräumen.

Rund 2.000 illegal in Venezuela aufhältige Kolumbianer wurden im Zuge dieser so genannten Volksbefreiungsoperationen abgeschoben. Statistiken des Flüchtlingshilfswerks UNHCR zeigen außerdem, dass während der Wochen nach der Grenzschließung 18.000 weitere Kolumbianer das Land verlassen haben. Viele von ihnen gingen unter Zwang: Sie fürchten staatliche Repression oder hatten keine Bleibe mehr, nachdem ihre einfachen Hütten vom venezolanischen Militär zerstört worden waren. Darum auch Uribes Holocaust-Vergleich.

Mit ihrem letzten Hab und Gut auf dem Rücken durchqueren Tausende Kolumbianer den Grenzfluss Táchira und verließen so ein Land, das sie einst - während des venezolanischen Erdölbooms und später in Zeiten des kolumbianischen Bürgerkriegs - mit offenen Armen empfangen hatte. Eine Situation, die von internationalen Organisationen und Politikern scharf kritisiert wurde.

Ausschnitt einer venezolanischen Zeitung: "Wirtschaftskrieg".

© Hanna Silbermayr

Eine regierungsnahe Zeitung: Kolumbianer als Schuldige der Wirtschaftskrise

Auf diplomatischer Ebene herrscht unterdessen Eiszeit. Sowohl Venezuela als auch Kolumbien haben ihre Botschafter zu Konsultationen zurückbeordert. Die beiden Länder schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Nicolas Maduro versteht Venezuela als Opfer des kolumbianischen Paramilitarismus, der durch die Destabilisierung der venezolanischen Wirtschaft die linksgerichtete Revolutionsregierung stürzen will. Darauf kontert Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, dass Venezuelas Probleme hausgemacht wären und die Schuld nicht bei anderen zu suchen sei. Experten sehen in den aktuellen Attacken von Seiten Venezuelas außerdem eine ausgeklügelte Wahlstrategie. Bei den Anfang Dezember anstehenden Parlamentswahlen droht der sozialistischen Regierungspartei ein Wahldebakel, sie wolle mithilfe des Grenzkonflikts von innenpolitischen Problemen ablenken, heißt es.

Verkäufer geschmuggelten Benzins in Kolumbien nahe der venezolanischen Grenze.

© Hanna Silbermayr

Tatsächlich wird auf kolumbianischer Seite der Grenze Schmuggelware verkauft.

Tatsächlich kommt die aktuelle Krise zumindest aus venezolanischer Sicht nicht ganz unerwartet. Das zeigen Beiträge der Regierungspartei PSUV auf Twitter. Schon länger wurde dort der Paramilitarismus als Urheber der schweren Wirtschaftskrise Venezuelas ausgemacht. Schmuggel, Kriminalität und Geldwäsche gingen demnach auf kolumbianisches Konto. Als Chef der Paramilitärs gilt Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe. Dieser wiederum soll enge Verbindungen zu Leopoldo López pflegen, jenem venezolanischen Oppositionspolitiker, der soeben wegen Anstachelung zu Gewalt und Verschwörung zu fast 14 Jahren Haft verurteilt worden ist.

Twittereintrag der sozialistischen Partei über Paramilitarismus in Venezuela

Twitter/@PartidoPSUV

PSUV auf Twitter: "So operiert der kolumbianische Paramilitarismus in Venezuela"

Im Kleinen werden kolumbianische Migranten für die Krise verantwortlich gemacht. Sie würden jene hochsubventionierten Produkte horten und teuer weiterverkaufen, die seit Monaten in den venezolanischen Supermärkten fehlen. Immer wieder tauchen in den sozialen Medien Fotos erfolgreicher Razzien auf, die festgenommene Kleinkriminelle neben einem Haufen staatlich regulierter Waren zeigen. Tatsächlich ist es im Land der weltweit höchsten Inflation inzwischen rentabler, sich dem Weiterverkauf subventionierter Waren zu widmen, als einer regulären Arbeit nachzugehen. Das scheint die venezolanische Regierung allerdings wenig zu interessieren. Auf Twitter veröffentlicht sie inzwischen Fotos von syrischen Flüchtlingen in Europa, vom Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA oder Massengräbern in Kolumbien. Die Nachricht ist klar: man solle sich auf eigenem Boden um die Einhaltung der Menschenrechte kümmern und nicht Venezuela für seinen Umgang mit Kriminellen kritisieren.

Bis wann die Grenze geschlossen und der Ausnahmezustand aufrecht bleibt, ist ungewiss. Nach Wochen diplomatischen Hickhacks haben sich aber zumindest die Präsidenten Venezuelas und Kolumbiens bereit erklärt, sich am Montag, den 21. September, in Ecuador zu einem Gespräch zu treffen. Als Mediatoren mit dabei: Rafael Correa und Tabaré Vázquez, die Präsidenten Ecuadors und Uruguays.