Erstellt am: 17. 9. 2015 - 14:18 Uhr
Genagelte Zukunft
Die Welt hat sich verändert. Der große Krieg zwischen Europa und dem radikalen Islam ist zu Ende, denn "der islamistische Hammer ist auf Europa niedergesaust". Europa und Russland sind in Klein- und Kleinststaaten zerfallen. Die Demokratie wurde durch Fürstentümer und Diktaturen ersetzt.
Kiepenheuer & Witsch
Vladimir Sorokin arbeitet sich an der Gegenwart ab und spinnt seine Ideen weiter, die er schon in "Der Schneesturm" angedacht hatte. Vieles gar nicht so fremd.
In Moskowien ist das Benzin ausgegangen, man hat sich der schmutzigen Benzinautos entledigt. Jetzt fährt man mit Kartoffelgas! Dadurch legt sich ein süßlicher Geruch über die Stadt. Aber auch nach Dung riecht es. Drei-Stockwerk- große Pferde transportieren Lasten. Wenn eines von ihnen furzt, erzittert die Umgebung.
Man spricht wieder reines Russisch und hat die Zeiten überwunden, in denen Kinder für die Benutzung des Wortes "Internet" auf Erbsen knien mussten und geschlagen wurden. "Lebendiges, korrektes Russisch, eine Ohrenweide!"
Karneval und Grips
In Köln darf wieder Karneval gefeiert werden, nachdem die Rheinisch-Westfälische Republik die Taliban in einem blutigen Kampf besiegt haben. Siebenmeilenstiefel, lebendige Tätowierungen und "lebendgebärendes Plastik" oder andere Lebstoffe verschönern und vereinfachen das Leben so wie das Grips, ein formflexibler Alleskönner.
CC BY 2.0, flickr.com, User: Tiffa Day
Auf den Kopf getroffen
Doch eines kann das alles nicht ersetzen: den Nagel.
Auf diesen Nagel aus Tellur sind alle scharf, kratzen ihr letztes Geld zusammen, machen bei der Lotterie mit, nur um in den Genuss dieser - klarerweise - verbotenen Droge zu kommen. Sie verhilft zu Glückseligkeit und Frieden. Noch dazu macht sie die Grenzen zwischen Toten und Lebenden durchlässig, kann heilen. Ein einziges großes Versprechen. Ein Versprechen, das mit einem Hammer direkt in den Schädel eingebracht wird. Und zwar nur von qualifizierten Fachkräften, den Zimmerleuten. Ein letaler Ausgang des Drogenkonsums ist nicht selten, kommt aber bei Pfuschern wesentlich häufiger vor als bei den professionellen Zimmermännern.
Sehnsuchtsort
Einzig und allein in der Republik Telluria im Altai-Gebirge ist der Gebrauch der Nägel straffrei, denn von dort werden die Nägel in alle Welt verkauft. Die Oligarchen dort schwelgen in Glück, Drogen und Geld, das sie dem Tellur zu verdanken haben. Die restlichen Bewohner von Sorokins russisch-europäischer Vision richten all ihr Tun nach dieser Droge aus.
Sprachgewaltig und skurril, fantastisch und satirisch zieht der Putin-Kritiker in "Telluria" alle Register. 50 Kapitel. 50 Situationen und Stile. Unzählige ProtagonistInnen. Auch lebendige Dildos, die am Hofe dienen, werden zu mitfühlenden Erzählern. Mit High-Tech ins Mittelalter. Sex und Drogen, ein ewiges Thema. Vladimir Sorokin trifft mit "Telluria" den Nerv der Zeit. Ein wortgewaltiger Trip.
CC BY 2.0, flickr.com, User: Jennifer Boyer