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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

16. 9. 2015 - 16:04

Grenzen los

Während man in der Slowakei stolz darauf ist, Teil des Schengenraums zu sein, führen mehrere EU-Länder wieder Grenzkontrollen ein.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Im Radio und auch als Podcast zum Anhören.

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Ich hatte ein Déjà-vu, als ich vor einigen Wochen die Stiegen der Burg von Bratislava hochgelaufen bin. Unüberwindbare Mauern und spitze Türme krönen den Hügel, von wo aus man einen 360-Grad-Blick über die slowakische Hauptstadt hat. "Zu euren Füßen liegt eine moderne europäische Metropole!", sagt die Reiseführerin zu einer Gruppe von rosawangigen deutschen Omas, die genau wie ich den Hügel bestiegen haben. Sie folgen prompt ihrer flinken slowakischen Reiseführerin, die vor ihnen mit einem blauen Schild in der Hand herum hüpft. Die Reiseführerin hat recht. Die Burg von Bratislava ist genau wie die Burg von Brno, oder die von Ljubljana, oder die von Krakau, oder vielleicht auch wie die von Graz. Fast 100 Jahre nach dem Zerfall von Österreich-Ungarn bestimmt immer noch die Architektur der imperialen Blütezeit die architektonische Form dieser Städte. Städte, die sich heute in fünf verschiedenen Ländern befinden. Länder, die heute Teil eines neuen Ganzen sind, das wir Europäische Union nennen.

Burg in Bratislava

CC BY-SA 2.0, flickr.com, User: Kurt Bauschardt

In der Ferne hörten wir die Schreie einer betrunkenen britischen Reisegruppe, die in Bratislava eine Junggesellenparty feiert - und wir fühlten uns gleich noch mehr in der EU. Wenn die deutschen Omas rosa im Gesicht sind, dann sind die Briten - unter dem Einfluss starker, aber für den britischen Standard billiger alkoholischer Getränke - rot im Gesicht. Sie sehen absurd aus, alle tragen die gleichen T-Shirts einer imaginären Fußballmannschaft. Sie fotografieren sich mit dem am dichtest besiedelten Territorium in der Slowakei - dem Plattenbauviertel Petržalka, der auf der anderen Seite der Donau liegt.

"Das, was ihr seht, ist Petržalka, ein Erbe des Kommunismus", spricht die Reiseführerin weiter, ohne sich von den Schreien der Briten stören zu lassen, und ich mische mich unter die deutschen Omas und höre zu. "Ein anderes Erbe des Kommunismus waren die Grenzen, nur wenige Kilometer von Bratislava entfernt befindet sich sowohl das österreichische, als auch das ungarische Territorium", erzählt sie weiter und zeigt auf das Land auf der anderen Seite des Plattenbauviertels. "Wir Slowaken haben gelernt, unsere Freiheit zu schätzen! Vor 1989 wurden diese Grenzen von Zäunen umzingelt und von Soldaten bewacht. Polizeihunde sorgten dafür, dass sie niemand überquert. Heute aber ist die Slowakei Teil des Schengenraums und all das ist schon dunkle Geschichte, Europa lernt aus seinen Fehlern!" Die deutschen Omas fangen an zu klatschen. Aus Spott oder aus Verwirrung klatschen auch die betrunkenen Britten mit.

Stacheldrahtzaun

CC BY-SA 2.0, flickr.com, User: florianric

Wir klatschen auch. Dank des Schengenraums und eines alten mit Gas betriebenen Autos haben ich und meine M. es geschafft, in den letzten Monaten alle oben genannten Burgen zu besteigen. Die Grenzen gab es nur in den Erinnerungen unserer Eltern, das Überqueren wurde damals als Staatsverrat angesehen und hätte ihnen das Leben kosten können.

In den letzten Tagen haben, dem Beispiel Deutschlands folgend, mehrere Länder wieder Grenzkontrollen eingeführt. Das, was die Euroskeptiker viele Jahre lang erkämpft, aber nie erreicht haben, passierte in wenigen Tagen. Kontrolliert werden auch die Grenzen, über die die slowakische Reiseführerin voller Stolz prahlte, dass es sie nicht mehr gibt. Ungarn hat seinen Zaun schon fertig gebaut. Bulgarien hat auch einen Zaun an der Südgrenze gebaut. Gerüchten zufolge hat Bulgarien Interesse daran, den Zaun nach israelischem Vorbild weiter zu entwickeln. Man könnte ja auch die Russen und Ostdeutschen befragen, wie man eine Mauer am besten baut. Die Berliner Mauer wurde ja in nur einer Nacht fertig gestellt.

Für einige Leute in Europa ist das Reisen immer noch mehr oder weniger leicht: während wir der Reiseführerin zuhörten, schlief einer der betrunkenen Briten auf einer Parkbank ein und seine Freunde vergaßen ihn dort. Bald darauf wachte er auf, ohne zu wissen, wo er sich genau befindet. Seine Hosentaschen schienen leer zu sein. Sichtlich verwirrt sprang er auf und rannte seinen Freunden nach in Richtung Petržalka. Höchstwahrscheinlich ist er bereits über die Grenze.