Erstellt am: 14. 9. 2015 - 13:36 Uhr
The daily Blumenau. Monday Edition, 14-09-15.
#demokratiepolitik #ideologien #diemittedergesellschaft
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
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Der Gewöhnungseffekt wird selbst bei mir nur noch selten außer Kraft gesetzt. Etwa gestern, als der Kommentator in den ARD-Tagesthemen in einer Verteidigungsrede der Regierungsentscheidung die Grenzen zu schließen die gesamte Opposition taxfrei als verwirrte "Gutmenschen" bezeichnete, also - wohl gedankenlos - den Kampfbegriff übernahm, mit dem einst Rechtsaußen-Populisten die helfende Zivilgesellschaft zu diffamieren begonnen hatten; einem Begriff, der mittlerweile so stark in der Mitte angekommen ist, dass er scheinbar bedenkenfrei verwendet werden kann. So wie "schwul" im gedankenfreien Teil der HipHop-Community verwendet wird.
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Andere Begriffe wurden massiv umgedeutet. War der "Wirtschaftsflüchtling" bis vor kurzem noch neutral besetzt, haftet ihm aktuell der Odem des Verbrechens an. Er kommt gleich nach dem Schlepper, dem Fluchthelfer, dem aktuellen Erzfeind der europäischen Union. Der "Wirtschaftsflüchtling" wird mittlerweile als mit Häme besetztes Schimpfwort verwendet - ungeachtet der Tatsache, dass praktisch alle aktuell in Europa lebenden Menschen selber Wirtschaftsflüchtlinge oder die Nachfahren solcher sind.
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Ähnrliches widerfährt gerade dem frischgekürten Chef der britischen Labour Party: Jeremy Corbyn, der sich in einer Mitglieder/Sympathisanten-Abstimmung (sowas sollten sich die SPD/Ö einmal trauen...) klar durchgesetzt hat, wird nicht nur von der internen und externen Konkurrenz, sondern auch von den ausländischen Medien als linkslinker Krampus ausgestellt.
Corbyn ist, das hat Robert Rotifer hier im August schon wunderbar ausgeführt, ein Sozialdemokrat alter Prägung, einer der die Blair/Schröder-Wende (eine neoliberale Hinwendung zur wirtschaftskonformen Austeritätspolitik, die etwa Hartz4, viele Privatisierungen und andere unternehmerfreundliche Maßnahmen brachte) nie mitgemacht hatte, sondern klassische, gewerkschaftlich unterstützte Arbeitnehmer-Politik verfolgt, Stichworte: Grundeinkommen, freie Bildung und gratis Gesundheitswesen für alle etc.
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Wer 2015 eine solche Agenda auffährt, gilt in der öffentlichen Betrachtung als linksradikal: der Fall von Jeremy Corbyn belegt das ebenso anschaulich, wie die medialen Darstellungen von Syriza oder Podemos. Projekte, die im Nachkriegseuropa noch als zutiefst demokratische mit dem legitimen Anspruch auf Gesellschaftsveränderung in der Mitte der Gesellschaft standen, werden heute ganz weit außen angesiedelt.
Es sind Projekte, deren grundsätzliche Forderungen und ideologische Basis an der vielleicht demokratiepolitisch bedeutendsten (west)europäischen Offensive andockt: am sozialdemokratischen, von Olof Palme, Willy Brandt und auch Bruno Kreisky in den 70ern geprägten Kurs, der die Öffnung der bis dorthin den Eliten vorbehaltenen Bildungseinrichtungen und die Installierung eines umfassenden Wohlfahrtsstaates nach sich zog.
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Im damaligen Wettstreit der Ideen hatten diese Konzepte klar die Nase vorn, wurden zwar von politischen Gegnern bekämpft, es wäre aber niemand auf die Idee gekommen diese massen/tauglichen Mittel als "radikal" zu diffamieren. Auch weil die wirklich Radikalen ihr (versagendes) Modell des realen Sozialismus in ganz Osteuropa präsentierten und auch im Westen noch deutlich gewagtere Modell kursierten. Brandt/Palme/Kreisky standen also fraglos mitten in der Gesellschaft. Kommt man heute mit letztlich genauso praktikablen Ideen, setzt eine seltsame Automatik ein, die banale Grundforderungen nach Gleichheit als linksradikale, gefährlich, ja fast schon terroristische Gefahr verteufelt.
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Gut, wären Kreisky/Brandt/Palme nicht im gesicherten Europa, sondern im Hinterhof der USA aktiv gewesen - es wäre ihnen wohl nicht viel anders ergangen als dem (im Kern und anfänglich auch klassisch sozialdemokratisch geprägten) Salvador Allende, der im Vergleich zu heutigen linken Regierungschefs wie Morales oder den Venezolanern als Gemäßigter durchgehen würde.
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Letztlich zeigt der in den Propaganda-Organen der Wirtschafts-Lobbys gefahrene, an die Syriza-Rezeption erinnernde Angst-Kurs gegen Corbyn vielleicht nur eine dahinter versteckte Angst: dass nämlich ein anderer Populismus als der den wirtschaftlich-globalen Interessen dienend entgegenkommende rechte durchaus als Gefahr betrachtet wird.
Wenn klassische Arbeiterpartei-Formeln zu einem Links-Populismus führen können, ist diese Furcht auch durchaus berechtigt - weil er am wahltaktisch größten Pool der Rechtsaußen und Rechtpopulisten (den unzufriedenen Jungen, vor allem den Männern) knabbern kann. Linkspopulismus wie in Deutschland hat das Problem dass er sich durch die DDR-Verdorbenheit seiner Führungs-Crew auch gleich wieder selber entwertet. Linkspopulismus wie in Südeuropa wird in Mittel-/Nordeuropa als Geste von Habenichtsen missverstanden, ein britischer Linkspopulismus jedoch hätte Potential für dort, wo früher die Mitte war. Weil er die Kraft hätte, die ver-rückten Zustände wieder in einen umfassenden Rahmen zu stellen. Ob dieses Wochenende da einen Startschuss gegeben hat, sei dahingestellt.