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Daniel Grabner

Geschichten aus on- und offline, zwischen den Zeilen und hinter den Links

27. 9. 2015 - 13:59

Man überlebt nicht alles, was man überlebt

In „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ erinnern sich Enkel an die Erzählungen des verstorbenen Großvaters. Herzzerreißend komisch und tieftraurig erzählt Matthias Nawrat die Geschichte einer Familie im Polen des 20. Jahrhunderts.

Vor kurzem ist Matthias Nawrats neuer Roman erschienen. Nach der Liebesgeschichte „Wir zwei allein“ und der Prekariats-Allegorie „Unternehmer“, die 2012 den Kelag-Preis bei den TDDL gewonnen hat, wendet sich der polnisch-stämmige Autor in „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ dem „Genre“ der Großvatererzählung zu.

Buch Cover

Rowohlt Verlag

"Die vielen Tode unseres Opas Jurek" ist im Rowohlt Verlag erschienen.

Ganz genau lässt sich der Zeitraum der Rahmenhandlung in Matthias Nawrats dritten Roman nicht bestimmen. Soviel ist allerdings klar: Wir befinden uns in der ersten Hälfte der 90er Jahre, die sogenannte Dritte Polnische Republik steckt noch in den Kinderschuhen und die Freudenrufe der Menschen um den Berliner Mauerfall hallen noch durch den eben zerfallenen Ostblock, als Opa Jurek stirbt und die Enkelkinder gemeinsam mit ihrer Mutter ins polnische Opole zu dessen Begräbnis reisen. Opole ist jener Ort, von dem aus die junge Familie vor ein paar Jahren aufgebrochen ist, um bei Verwandten in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Zwischen den Plattenbauten ihrer alten Heimat, den Mahlzeiten in der Wohnung ihrer Großmutter Zofia und den Spazierfahrten mit ihrem Onkel Wojtek erinnern sich die Enkelkinder an die abenteuerlichen Geschichten ihres Großvaters.
Als Leser folgt man diesen Nacherzählungen, die mit gut 400 Seiten Nawrats bisher umfangreichsten Roman ausmachen. Es ist die Lebensgeschichte von Opa Jurek, aber auch die der Großmutter und Eltern, und es ist auch ein Ausschnitt aus der Geschichte Polens: vom Einmarsch Hitlers bis zum Ende der Volksrepublik 1989. An diesem zeitgeschichtlichen Gerüst zieht Nawrat in vornehmen Plauderton das teils fiktive, teils autobiografische Familienepos hoch.

Die vielen Tode eines Schelms

In seinen Geschichten inszeniert sich Opa Jurek dabei als gewitzter Tausendsassa. So gilt er beispielsweise als der Erfinder der umgekehrten Humoristik, hat den ersten Hollywood-Western im kommunistischen Polen vorgeführt und sich tagelang am Grunde eines Teiches vor deutschen Soldaten versteckt. Das bewegte Leben des schelmischen Helden pendelt zwischen Rückschlägen und Erfolgen, ist von glücklichen Zufällen und Missverständnissen und dem unermüdlichen Durchwurschteln durch widrige Verhältnisse, sei es im besetzten Polen der Kriegsjahre oder dem kommunistischen Polen der Nachkriegszeit, geprägt. Zeitgeschichte wird im Roman ganz nahe an den Erlebnisses und Anekdoten aus dem Leben der Protagonisten vermittelt.
Schon zu Beginn des Romans stirbt Opa Jurek also seinen letzten und endgültigen Tod. Danach erinnern sich die Enkel an die vielen Tode, die er in seinem Leben schon überlebt hat. Es sind die existenziellen Erfahrungen eines Lebens, wie zum Beispiel jene, als er nach wochenlangem Todeshunger im Konzentrationslager einem Wachsoldaten ein zufällig entdecktes Bündel mit Krakauer und Brotkringel übergibt, weil er es nicht unbemerkt essen kann.

"Der schrecklichste Moment im Leben unseres Opas ist es gewesen, als er das erkannte. Und als er sich entschloss, den Fund zu melden. In diesem Moment ereilte ihn sein zweiter Tod."

Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, siedelte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg um. Er studierte in Freiburg und Heidelberg Biologie, danach am Schweizer Literaturinstitut in Biel. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Sein Roman „Unternehmer“ (2014), euphorisch besprochen und für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde u.a. mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet. Matthias Nawrat lebt in Berlin.

Matthias Nawrat

Sebastian Hänel

Überlebensstrategie Humor

Hinter dem unbefangenen Gestus des Großvaters verbergen sich die Traumata des 20. Jahrhunderts. Matthias Nawrat hat dabei eine ganz eigene Sprache gefunden. Eine Sprache der Übertreibung und Abschwächung. Es ist ein unvoreingenommenes Vokabular mit dem der Autor erzählt. Allgemeinbegriffe wie „Kommunismus“, „Nationalsozialismus“ oder „Konzentrationslager“ verwendet er kaum. Die Dinge werden gerade nicht bei diesen Namen genannt, stattdessen werden sie „ausgeschrieben“, minutiös von den Enkeln im Konjunktiv der indirekten Rede Jureks „auserzählt“. Dieser scheinbar naive Blick auf die Ereignisse beinhaltet eine gewisse Komik, wenn auch mit einer abgründigen Kehrseite, weil man ja immer weiß, worum es sich eigentlich handelt, wenn beispielsweise von der sogenannten schwierigen Zeit, der Leiharbeit im Ausland und damit verbundenen Erlebnissen wie den Missständen im Zusammenhang mit den sanitären Einrichtungen und der miserablen kulinarischen Situation die Rede ist. Das subsumierte Grauen, das so beispielsweise im Begriff „Konzentrationslager“ steckt, wird dadurch aufgedröselt und erfahrbarer gemacht.

„Der Humor, mit dem meine Eltern und Großeltern uns über ihr Leben erzählt haben, diente ja nicht der Verharmlosung. Er stellte eine Überlebensstrategie dar. Deshalb wird der eigentliche Schmerz erst in diesem Humor spürbar, nicht in den Fakten selbst.“, sagt Nawrat in einem Interview mit seinem Verlag.

Politik, Wirtschaft, Kommunismus

Ein Großteil des Romans spielt in der sogenannten grauen Zeit, dem kommunistischen Polen der Nachkriegszeit, das von den Machthabern Bierut, Gomulka, Gierek und Jaruzelski und deren repressiver Politik geprägt ist. Das politische System wird in Jureks Erzählungen in seiner Skurrilität beleuchtet, die Idee von der Gleichheit aller als scheinheiliger Vorwand zum Machterhalt Weniger entblößt. Dem idealistischen Großvater, der bis zu dessen Denunziation in diesem System aufsteigt, steht der Vater der Enkel als Verfechter der unterdrückten freien Marktwirtschaft gegenüber: Er kämpft um die Erlaubnis, ein eigenes Geschäft für Kletterbedarf betreiben zu dürfen. Letztendlich werden sowohl Vater als auch Großvater mehrmals zum Aufenthalt in den Grauen Quader eingeladen, bei dem sie auch die Gästeräumlichkeiten im Keller kennenlernen.

Man überlebt nicht alles

Opa Jurek legt seit seiner Internierung in Auschwitz und der Erfahrung des Todeshungers besondere Sorgfalt auf mehrgängige Mahlzeiten, die für ihn den Inbegriff des Genusses und der Freiheit darstellen. Lebensmittel aller Art sind euphemistisch Delikatessen, eine obsessive, lebensbestimmende und irgendwie sympathische Leidenschaft Jureks, die ihre Schattenseiten nicht nur in der neurotischen Kontrolle der Küchenabfälle im Haushalt, oder dem teuren Horten von Lebensmitteln aller Art im Keller hat, sondern sich nach und nach auf die Gesundheit des Großvaters niederschlägt.
„Man überlebt nicht alles, was man überlebt“, wird die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger in einem Interview mit der ZEIT zitiert. Nicht überlebt habe sie den Anblick der Großmutter am Viehwagen, kurz bevor sie von den Nazis abtransportiert wurde. Großvater Jurek hat vieles in seinem Leben überstanden, und doch: den Todeshunger aus Oświęcim ist er nicht mehr losgeworden. Und so ist eine der letzten Erinnerungen der Enkelkindern an ihren Großvater, jene, als er ihnen nach mehreren Operationen am Verdauungstrakt, abgemagert im Krankenbett, die kühle Hand auf den Unterarm legt.

Mit „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ ist Matthias Nawrat ein großartiges Stück Literatur gelungen. Zeitgeschichte ist hier persönliche Lebensgeschichte Einzelner, und das wurde selten näher, erfahrbarer und berührender vermittelt, wie in diesem Roman.