Erstellt am: 11. 9. 2015 - 14:50 Uhr
Alles migriert
Stöhnen aus einem deutsch-türkischen Wohnzimmer der 80er Jahre, ein alter Weltempfänger aus dem Zweiten Weltkrieg und hypnotisierende Translate-Übersetzungen von Homers Odysee: Stimmen und Sounds wandern in der Ausstellung "Digital Migration" durch die Räume des Wiener Künstlerhauses und erzählen Geschichten von unterschiedlichen Migrationserfahrungen.
Paraflows
Während an europäischen Bahnhöfen der Ausnahmezustand herrscht und tausende Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen warten, ist man schnell dazu verleitet, die Ausstellung aus einer politischen Perspektive aus zu betrachten. "Dass die Ausstellung jetzt stattfindet ist ein Zufall, aber kein schlechter Zufall.", sagt Kuratorin Judith Fegerl. Sie und die anderen KuratorInnen verstehen Migration nicht als Ausnahmezustand oder gar Krise, sondern als Normalzustand. Ihre Auswahl für die Ausstellung beim Paraflows-Festival beschäftigt sich mit Migration und Identität als offene Prozesse.
Mobile Arbeitsweisen
Die Mobilität findet sich nur in den Biografien der KünstlerInnen, die aus "klassischen" Migrantenfamilien kommen oder als Artists in Residence von einem Ort zum nächsten ziehen. Auch die Arbeitsweisen sind mobil: Ting-Ting Cheng hat für ihre Video-Installation "The School of Accents" ihr "fremde" Akzente des Englischen gelernt, von unterschiedlichen Muttersprachlern. Ihre LehrerInnen hat sie über die Plattform fiverr.com gefunden. "Ich wollte herausfinden, wie Akzente Identitäten beeinflussen und mitgestalten.", sagt Ting-Ting Chen.
Paraflows
Während die unterschiedlichen Stimmen, Sprachen und Sounds die Ausstellung dominieren, lockt ein Raum mit einem süßen Duft. In Martin Roths "Plant Concert" musizieren Hanfpflanzen. Sie sind an einen MIDI Synthesizer angeschlossen, der aus dem elektronischen Widerstand des Pflanzengewebes ein Signal erstellt und daraus Töne produziert. Die Pflanzen sehen etwas müde aus. "Sie kommen aus Ungarn und haben sich noch nicht ganz erholt. Wir hoffen auf die Unterstützung von lokalen GärtnerInnen" sagt Kuratorin Judith Fegerl. Doch auch im müden Zustand machen sie schon ganz schön entspannende Musik.
Ganz ohne Sounds kommt die "Black Box" von Amin Hak-Hagir und Malte Fiala aus. Der schwarze Würfel hat nur einen einzigen Zugang: einen USB 3.0 Port. Wenn BesucherInnen ihren USB Stick reinstecken, geben sie eine Datei ab und bekommen dafür eine andere Datei.
Der blinde Datenaustausch erinnert an Zeiten als man sich bei Shareprogrammen wie eMule oder Kazaa nie ganz sicher sein konnte, ob man wirklich den neuesten Holywood-Blockbuster in 240p Qualität runterlädt oder einen Gore-Film. Bei mir war der Schock nicht so groß: ich habe ein Bild von zwei masturbierenden Einhörnern bekommen, die Regenbögen ejakulieren.
Weg mit der Mauer
Die Ausstellung bietet aber nicht nur Experimente mit Identitäten, Mobilitäten und Migrationen, sondern auch klare politische Botschaften. Die kommen vom Zentrum für politische Schönheit, die mit ihren Aktionen gegen die europäische Flüchtlingspolitik, immer wieder breitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Eine Videoinstallation dokumentiert ihr Projekt "Erster Europäischer Mauerfall".
Paraflows
Die Ausstellung ist nur ein Teil des diesjährigen Paraflows Festivals, das auch Theateraufführungen, Konzerte und Symposien anbietet. Weitere Infos unter: www.paraflows.at
Markus Thums liefert mit seinen Porträts der "Boatpeople" einen Beitrag zur aktuellen Debatte um mediale Bilder von Flüchtlingstragödien. "Mir ist aufgefallen, dass Flüchtlinge immer von einer großen Distanz abgebildet wurden. Ich wollte diese Distanz herausnehmen.", sagt Markus Thums. Ob die aktuellen dramatischen Fotos, wie von dem dreijährigen Ailan Kurdi, Empathie auslösen können, kann Thums nicht einschätzen. Seine Porträts jedenfalls schaffen es, Empathie zu wecken und Geschichten zu erzählen ohne dabei die Würde der Abgebildeten zu verletzen.
Für alle, die in Migration mehr sehen (wollen) als ein politisches Problem der "Anderen", ist die Ausstellung "Digital Migration" ein Besuch wert. Bis zum 11. Oktober können die Installationen im Wiener Künstlerhaus betrachtet werden.