Erstellt am: 10. 9. 2015 - 15:00 Uhr
Schauplatz Westbahnhof
Der Westbahnhof ist weiterhin die wichtigste Drehscheibe für Flüchtlinge in Wien. Tausende Schutzsuchende kommen hier täglich an. Die meisten wollen nach Deutschland weiterreisen, viele auch nach Schweden.
Foto: Christoph Weiss
Dienstag 22 Uhr
Gerade ist ein Zug aus Ungarn angekommen. Erschöpfte Menschen mit Taschen und Plastiksackerln schleppen sich den Bahnsteig entlang. Einige halten ihre Babies im Arm. Eine völlig übermüdet wirkende Frau führt drei Kinder an der Hand. Manche Flüchtlinge scheinen sich zu freuen, dass sie in Wien angekommen sind, anderen steht die pure Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Helferinnen und Helfer am Bahnsteig begrüßen die Flüchtlinge mit Applaus. An den Wänden hängen Plakate in mehreren Sprachen, die den Schutzsuchenden wichtige Informationen und ein Gefühl von Sicherheit vermitteln sollen.
Foto: Christoph Weiss
Es sei wichtig, den Flüchtlingen zu vermitteln, dass sie willkommen sind, sagt eine Helferin. Sie betreibt einen Informationsstand für Flüchtlinge und sammelt Spendengelder für Tickets zur Weiterreise. Spenden für Fahrkarten werden aber auch an den Ticketschaltern der ÖBB entgegengenommen.
Foto: Christoph Weiss
Eine andere Gruppe von Helfern verteilt gratis SIM-Karten eines großen internationalen Mobilfunkbetreibers. Mit ihnen können die Schutzsuchenden europaweiten Internetzugang und halbwegs preiswerte Gesprächsminuten erwerben. Beides ist von großer Wichtigkeit, um über gesperrte Grenzen informiert zu bleiben, um mit Familienmitgliedern, die noch im Heimatland verblieben sind, in Kontakt zu bleiben, und um verlorene Mitreisende wiederzufinden.
Foto: Christoph Weiss
Zwei Teenager erzählen mir, dass ihre Flucht aus Afghanistan bisher vier Monate gedauert hat. Die beiden Freunde seien zu zweit unterwegs, sagen sie, ohne ihre Familie. Sie wollen weiter nach Schweden. Ein Plakat an der Wand warnt Schutzsuchende wie sie davor, den Weg nach Schweden durch Dänemark zu suchen.
Foto: Christoph Weiss
Ein anderer junger Mann ist aus dem syrischen Palmyra geflohen. "Die IS-Miliz tötet Männer, Frauen und Kinder", sagt der verzweifelte Mann. Er ist allein unterwegs.
Foto: Christoph Weiss
Vergangene Nacht haben 450 Menschen auf dem Westbahnhof übernachtet, in der Nacht zuvor 1.100 – teilweise in abgestellten Waggons, die von den ÖBB zur Verfügung gestellt wurden. Helfer verteilen Brot, Tee und Obst.
Foto: Christoph Weiss
Viele der Freiwilligen sind Sprachstudenten und tragen Schilder auf denen steht "Arabisch, Deutsch" oder "Persisch, Englisch". Die Arbeit sei anstrengend, erzählen die Helfer, die Geschichten, die sie hören, seien schrecklich. Aber es gäbe auch schöne Momente. Gerade sei ein zehnjähriger Bub allein ohne Eltern in Wien angekommen – und hat seine Familie nach Monaten in Wien wiedergefunden. "Ich habe bisher jeden Tag hier geheult wie ein Schlosshund", sagt ein junger Helfer.
Foto: Christoph Weiss
Mitten in der Bahnhofshalle haben Freiwillige einen Kinderspielplatz eingerichtet. Auf dem Boden liegen Decken, Stoffiere, Plastikspielzeug. Es gibt Obst, Wasser und Süßigkeiten. Zwei Frauen spielen mit Kindern das Kartenspiel UNO. Ein junger Mann spielt Gitarre. Martin ist einer der Organisatoren des Spielplatzes. Er ist wie die meisten Helfer hier Pädagoge. "Den Mädchen und Buben hier war es oft wochen- oder monatelang nicht erlaubt, zu spielen und einfach nur Kind zu sein."
Foto: Christoph Weiss
Mittwoch 21 Uhr
Ein Zug aus Belgrad fährt in den Bahnsteig ein. Hunderte Flüchtlinge strömen aus den Waggons. Binnen weniger Minuten ist der Bahnsteig so voll, dass ich kaum mehr weiterkomme. Sanitäter versorgen erschöpfte und verletzte Menschen. Tee, Brot und Obst wird verteilt. Ich frage Mitarbeiter von Caritas und Rotem Kreuz, wie es möglich ist, dass Flüchtlinge direkt aus Serbien mit dem Zug nach Wien gelangen können. Keiner weiß eine Antwort. "Wir erhalten kaum Informationen aus Ungarn", sagt Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner.
Foto: Christoph Weiss
Der Caritas-Generalsekretär erzählt von einem der vielen tragischen Momente auf dem Bahnsteig. "Wir haben gerade eine Mutter betreut, die auf der Reise ihr Kind verloren hat. Wir haben sofort Kontakt aufgenommen mit dem Suchdienst vom Roten Kreuz und hoffen, dass das Kind in einem der nächsten Züge dabei ist. Die Situation, dass Familien auf der Flucht auseinandergerissen wurden, hatten wir in den letzten Tagen mehrmals."
Foto: Christoph Weiss
Die Arbeit auf dem Westbahnhof sei eine emotionale Achterbahnfahrt. "Wir sind sehr froh, dass wir die Menschen hier mit dem Allernotwenigsten versorgen können", sagt Schwertner. "Tee, Essen, saubere Kleidung, Decken. Es starten von hier auch immer wieder private Hilfskonvois, die wir unterstützen. Sie bringen Hilfsgüter direkt nach Ungarn."
Etwa 50 Freiwillige helfen mittlerweile auf dem Bahnsteig mit, sagt Klaus Schwertner. "Wir haben jetzt einen eigenen Dienstplan eingerichtet, wo sich Menschen eintragen können, um zu helfen." Ihm sei wichtig, dass die Hilfe zielgerichtet ist. Auf der Facebook-Site "Wir helfen" poste die Caritas, wonach sie gerade am dringendsten suche. "Wir rufen zum Beispiel auf, wenn wir jemanden zum Dolmetschen brauchen. Oder, wie es heute der Fall war, wenn wir ganz bestimmte Sachspenden brauchen."
Foto: Christoph Weiss