Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "The daily Blumenau. Tuesday Edition, 08-09-15."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

8. 9. 2015 - 12:23

The daily Blumenau. Tuesday Edition, 08-09-15.

Willkommene Flüchtlinge, periodische Politik und das Ende der Ohnmacht. Und drängende Fragen.

#zivilgesellschaft #demokratiepolitik

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Ich möchte, aus konkretem Anlass, aber auch prinzipiell Arthur Einöder danken, für sein Inspiration und ganz überhaupt.

Prämisse:

Es ist unmöglich, nicht gerührt zu sein, von dem, was sich mit Österreich getan hat, in den letzten Tagen. An tatkräftiger Hilfe und menschlicher Wärme angesichts eines im Desaster zu versinken drohenden Stroms an Vertriebenen.

Es ist ebenso unmöglich, dieses Lebenszeichen einer kaputtgeglaubten, weil zuletzt gruselig apathischen Zivilgesellschaft nicht als Heldentat anzuerkennen.

Es ist nicht möglich, keine Hoffnung zu schöpfen.

Gerade jetzt stellen sich aber ein paar dringende drängende Fragen:

Ist das der Beginn einer Bewegung?

Inwieweit dürfen, können und sollen Staat, Länder und Gemeinden ihre Pflichten an Private auslagern? Denn das Grundgefühl der letzten Tage sagt: Ohne die geht's ja eh auch.

Was wäre/würde geschehen, wenn die sogenannten Asylkritiker, also die Rassenreinhalter, die Keinen-Platz-Haber die Macht hätten?

Wäre das alles auch dann passiert, wenn es sich nicht nur um Durchreisende, anderswo ihr Weiterleben Suchende gehandelt hätte, wenn nicht nur ein paar Dutzend sondern ein paar Zehntausend dieser Refugees ihr Asylland in Österreich gesehen hätten?

Und, vor allem: was jetzt?

Outsourcing von gesellschaftlicher Verantwortung

Die beeindruckendste Erkenntnis birgt die größte Gefahr. Dass nämlich der Einsatz der Zivilgesellschaft die Zögerlichkeit der (allzu verbeamtet, unflexibel und im Notfall also unmenschlich denkende und handelnden) politischen Verantwortungsträger ersetzen kann/muss.

Da gewählte/delegierte/von politisch kontrollierten Organen aufgestellte Verantwortliche aber genau dafür da sind, nämlich für die Koordination von Hilfeleistung in Krisenfällen, ist es gar nicht möglich, sie aus dieser Verantwortung zu entlassen; es sei denn, man möchte die Demokratie gleich mitabschaffen.

Das Gefühl, besser als der Staat oder die Gemeinde funktioniert zu haben, ist ein trügerischer Sieg, weil es nur bedeutet, dass man stolz auf ein Backup zu einem ohnehin funktionstüchtigen Apparat ist. Und, im Höhenflug, dann fälschlicherweise annimmt, darauf verzichten zu können.

Der hauptsächliche Diskurs in der aktuellen Verantwortungskrise zum Thema Vertriebene wird weiterhin der um die institutionelle Verantwortung sein müssen. Nur weil die Grassroots-Bewegung sich nicht mit drei anderen Körperschaften incl. einer zur Unbeweglichkeit verurteilten EU koordinieren muss und so schnell und richtig statt too little too late helfen kann.

Alles andere ist nämlich Ungarn.
Dort, in einem Land, dessen Zivilgesellschaft seine moralische Verantwortung an eine rechtsnationale, ultrapopulistische Regierung und partiell auch neofaschistische Milizen outgesourct hat, wurde tatsächlich keinerlei politisch kontrollierbare Infrastruktur mehr zur Verfügung gestellt. Wiewohl das gegen sämtliche Menschenrechts-Konventionen und garantierte (europäische) Grundrecht verstößt. Dort ist das, was hierzulande verschämt als Asylkritik gehandelt wird (nämlich die Verweigerung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte), mittlerweile Staatsreligion. Auch wenn es die Verfassungen beugt. Dort schützt die Polizei nicht, sie macht mit Nazi-Hooligans gemeinsame Sache, indem sie sie gewähren lässt. Auch dort zeigen Reste der Zivilgesellschaft, dass sie willens sind, Hilfe zu leisten: allein, sie bleiben die einzigen; institutionell ununterstützt.

Und das ist alles nur ein paar Kilometer bzw. ein paar Monate entfernt; kann sich mit ein paar drastisch-hakenschlagenden Entwicklungen innerhalb kürzester Zeit auch in Österreich Platz verschaffen.

Die Sache mit der periodischen Politik

Jetzt, im leisen Höhenflug einer aktiv erarbeiteten Selbstorganisation, in dem ein paar NGOs und ein paar verlässliche Player wie die ÖBB (deren Chef damit eine Art Wahlkampf um einen Parteichefposten begonnen hat), anzunehmen, dass eine erwachende Zivilgesellschaft die Probleme alleine stemmen kann, ist vermessen; und gefährlich.

Die Alternative ist weit weniger erfüllend als das aktive Gefühl des Helfen-Könnens: Für eine Rückkunft einer nachhaltigen politischen Verantwortung zu sorgen, das scheint eine Aufgabe zu sein, an der selbst ambitionierte politische Kräfte scheitern.

Es liegt am Phänomen der periodischen Politik, wie es eine Freundin gestern genannt hat: dem Nicht- oder Wenighandeln wegen des dauernden Schielens auf Umfragen; der falschen Gewissheit, dass Nichts- oder Wenigtun die geringsten Verluste nach sich zieht.
Dass diese Passivität nur den Populisten nützt, die jegliche missliche Lage (via Genörgel, Verschwörungstheorie oder Bestemm auf einen - nur virtuell existenten - Autochtonismus) für sich ausnutzen können, sollte sich angesichts des Niedergangs der in akuter Handlungsstarre befindlichen, vormaligen Großparteien jetzt eigentlich herumgesprochen haben.

Und es ist kein Trost, dass sich an dieser Nicht-Politik unter einem rechtsnationalistischem Regime nichts ändern würde (wie Orbans unstrukturierter ZickZack-Kurs der letzten Tage belegt): ohne zumindest mittelfristige Planung ist keine Regierung eine Wählerstimme wert.

Die einzige konstruktiv-schlüssige Konsequenz der Erfahrungen der letzten Tage sollte die Erkenntnis sein, dass es in unserer aktuellen Parteien-Demokratie immer noch dringend notwendig ist, sich innerhalb dieser existierenden Kräfte zu engagieren und organisieren. Weil sie Bund, Länder und Gemeinden lenken, und weil dort die Ressourcen stecken

Die Alternative dazu ist das Abgleiten in eine Auslagerungs-Demokratie ungarischer Prägung oder der Rückfall in den alten österreichischen Ständestaat - wo die Reste der Zivilgesellschaft im besten Fall machtlose Fundamental-Opposition spielen dürfen.

Und dann noch ein Fünkchen Selbstkritik...

... denn es ist eine Sache, Durchreisenden Verpflegung, Kuscheltiere und Bekleidung zuzustecken und ihnen eine Übernachtung mit hygienischen Mindeststandards zu checken, aber eine andere, Vertriebene dauerhaft anzusiedeln und zu integrieren.
Für Teile jener, die am Wochenende ihre Hilfe geleistet haben, ist auch das bereits Lebenspraxis und für viele andere ist es wohl auch vorstellbar.

Ein 100-Meter-Sprint ist aber kein Marathon, sondern das schiere Gegenteil.
Eine Schweiß, Tränen und Endorphine ausschüttende Peak Performance ist mit den Mühen der Ebene, mit der quälenden Redundanz im Umgang mit der Bürokratie, Bildungs- und Arbeitseinrichtungen nicht zu vergleichen. Und es ist wichtig, dass sich die gerade so erfolgreichen Sprinter jetzt nicht für Langstreckler halten, sondern da erst einmal echte Trainingseinheiten einlegen, oder sich zumindest bei anderen Marathonläufern in ihrer Bekannschaft/Umgebung oder beim NGO ihres Vertrauens schlau machen.

... und Achtung vor politischen und medialen Mitläufern

Die, die jetzt unbedacht auf den Zug aufspringen sind am allergefährdetsten. Und es sind weniger die aktiven Helfer als die unreflektierten Erhitzer: die Medien.

Klar haben auch der Boulevard und die konservativen Warner durch den aktuellen Hype ihr Herz entdeckt. Und klar haben sie den Backlash gerochen, haben schnell erkannt, dass sich die öffentliche Meinung nach dem Höhepunkt des Camping-Elends in Traiskirchen, vor allem aber nach der Erstickungs-Tragödie auf der A4 dreht; haben spätestens durch das letzte Wochenende, die Bahnhofshilfe und als Drüberstreuer das europaweit zur Ikone gewordene Bild des kleinen an den Strand gespülten Buben begriffen, dass der Grundton von davor, nämlich rauhes Gestänker, jetzt fehl am Platz ist. Die Medien haben die Tonlage der NGOs übernommen und halten sie jetzt; und setzen die Politik unter Druck, nicht mehr die Spielbälle, die Opfer, die Vertriebenen.

Die Frage ist nur wie lange dieser menschliche Umgangston hält.
Spätestens dann, wenn der erste Blödsinn passiert, den die populistische Propaganda als Übergriff thematisieren kann (und traumatisierte Menschen sind davor, vorm Blödsinnmachen, noch weniger gefeit als sonstwer; und es sind aktuell viele traumatisierte junge Menschen in Österreich, und viele unter schändlichen, zornmachenden Bedingungen), wird die Debatte wieder kippen. Und die Angst vorm Ausländer, der dir den Arbeitsplatz und sonstwas wegnimmt, wird die Menschlichkeit überlagern.
Welche Tonalität wird dann in den Medien vorherrschen? Wie wirkt sich der herbstliche Wahlkampf aus?

Das Ende der Ohnmacht ist das Anfang von?

Die letzten Tage haben einem bösen Gefühl den Garaus gemacht: dem Gefühl in einer Krisensituation, die von den Verantwortlichen in Europa und Österreich nicht so recht bewältigt wird, und die außer Propagandastoff für Populisten keine Perspektive bietet, selber etwas tun zu können. Die individuelle Ohnmacht zu überwinden.

Um einen Satz von zu Beginn zu wiederholen:
Es ist nicht möglich, keine Hoffnung zu schöpfen.

Aber was kommt nach dem Ende der Ohnmacht? Eine weitere? Der Untergang von Wien? Eine unüberwindliche Spaltung der Gesellschaft? Eine Abkehr von allzu kurzatmiger, rein periodischer Politik?