Erstellt am: 8. 9. 2015 - 10:52 Uhr
Zu viele Bilder
Man kann es für eine Pflicht halten, Fotos zu betrachten, auf denen Grausamkeiten und Verbrechen festgehalten sind. Man sollte es in jedem Fall für eine Pflicht halten, darüber nachzudenken, was es heißt, solche Bilder zu betrachten, und wie es um die Fähigkeit bestellt ist, sich das, was sie zeigen, tatsächlich anzueignen.
aus: Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten
Seit Tagen versuche ich das von der Exekutive exklusiv an die Kronenzeitung geleakte Foto des LKW-Innenraums, der im Raum Parndorf zu stehen kam, zu finden.
Ich suche halbherzig danach, die Suchbegriffe in der Suchmaschine treffen nicht zu und nach wenigen Versuchen breche ich die Suche wieder ab.
Kollege Ali Cem Deniz schüttelt den Kopf. Er hat das Bild auch noch nicht angeschaut, meint aber er würde es sofort finden, auf türkischen Medienseiten.
Er hat vorgeschlagen die Gesprächssendung FM4 Auf Laut mit einem Gespräch über die Macht der Bilder aus der Sommerpause zurückzuholen.
Das letzte Auf Laut-Gespräch haben wir Anfang Juli übers Campen geführt mit Uneinigkeiten in der Redaktion, darüber ob es nicht verkehrt ist angesichts der Not-Zeltstädte übers Freizeit-Zelten zu sprechen.
EPA/Bernd Thissen
Das Tempo der Ereignisse lässt mich daran zweifeln, ob über die Macht der Bilder zu sprechen am Dienstag, 8.9. 2015 21:00-22:00 Uhr den Erfordernissen des Abends entsprechen wird.
Andererseits packen die Anpackenden an und die anderen, zu denen ich mich noch zähle, sehen nur zu. Bei der affektiven Polarisierung, den vielseitigen emotionalen Ansteckungen und Abstoßungen, dem Vor- und Zurückschwappen von Mut und Angst, Hoffnung und Verzweiflung.
Tanja hat Jus am Wiener Juridikum studiert und macht jetzt Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Wirtschaft und Recht an der WU. Ich zeige ihr das Foto aus Bochum und frage sie, was mit ihr beim Betrachten passiert. „Es löst Traurigkeit und Hass aus weil die Schlepper das nur wegen dem Geld machen.“
Werner ist Pensionist, er sagt: „Das erinnert mich an die Fluchtfahrzeuge. Wie die Menschen eingekerkert werden auf einem Meter, müssen zu fünft oder zu sechst auf einem Quadratmeter leben, das heißt atmen sollten sie auch, ned? Und wenn die Klappe zu ist dann gibst wenig Prob.. gibt’s Probleme mit der Luft natürlich. Wie das der Fall war auch, na? Also ein gestelltes Foto für mich, aber nachempfunden der Tatsache.“
Ich zeige Tanja und Werner noch drei Fotos.
Das Bild als Schock und das Bild als Klischee sind zwei Seiten des gleichen Phänomens.
Susan Sontag
Beide sagen beim Betrachten der Bilder "Das erinnert mich an ..."
Fällt es leichter über die Bilder zu sprechen, die eins nach dem anderen und alle zusammen ins Gedächtnis eingewirkt haben, als über das, was konkret vor Augen liegt?
CFCF
Vorgestern hat der türkische Fotograf Yasin Akgül in Kobane den Vater des ertrunkenen 3-jährigen Aylan Kurdi vor dessen zerstörtem Haus fotografiert.
„Ich sehe einen erschütterten Mann, der vor den Trümmern seines Wohnhauses steht.“ sagt Werner.
„Schaut aus wie wenn jemand vor seinem zerbombten Haus steht. Wie wenn der jetzt etwas verloren hätte und traurig vor seinem alten Heim steht.“ sagt X.
Studentinnen des Wirtschaftsrechts:„Aber er ist irgendwie schön.“ „Er sieht nicht traurig aus.“ „Er ist zu schön angezogen als ob er, also er kommt dann erst danach hin, also er ist nicht sofort betroffen, er ist wahrscheinlich weggelaufen oder geflüchtet und dann zurückgekehrt.“ „Es erinnert mich an Instagram, wenn du da die Fotos machst um einfach zu zeigen, oh das war jetzt, der Unfall ist passiert.“
Abdullah Kurdi, der Frisör aus Kobane, dessen Frau und zwei Söhne zwischen Bodrum und Kos ertrunken sind, hat sich vorgestern zur Beerdigung ein Hemd angezogen.
Waren sich Tanja, Werner und die anderen bisher relativ einig in der Besprechung der Bilder, so tauchen jetzt erste Differenzen auf.
Und Fotografien von Kriegsopfern sind selbst eine Art von Rhetorik. Sie insistieren. Sie vereinfachen. Sie agtitieren. Sie erzeugen die Illusion eines Konsensus.
Susan Sontag
Zur Reuters-Fotografie vom Durchschlüpfen unter den ungarischen Grenzzaun sagt X: „Erinnert halt an den Emigrantenstrom der momentan auf Österreich zukommt bzw. auf Europa. Da geht es mir so ähnlich wie bei den anderen Bildern auch. Dass es nicht mehr das auslöst, was es vielleicht sollte. Man hat es einfach zu oft gesehen in letzter Zeit.“
Die Wirtschaftsrechtlerinnen: „Oje nein, ist nichts Fröhliches.“
„Das ist dieser Zaun, wo die Leute da durchkriechen.“
Der Pensionist Werner:„Ein Mädchen, das wahrscheinlich nach dem Zaun, der Überwindung des Zaunes gerettet worden ist, bzw. durchgekommen ist und vor lauter Ergriffenheit, vor lauter Freude weint.“
Weint die Frau am Foto vor Freude?
Tanja sieht das anders:„Die hat sich am Finger verletzt wie es ausschaut.“
Ihre Jus-Kollegin Natascha:„Ich finde persönlich, dass das Bild in mir auslöst, dass jetzt einen Draht aufstellen keine Lösung für das Problem ist.“
Werner:„Das Boot ist voll. Die Arbeitsplätze, um die wird es ein Gerangel geben.“
Was löst das Bild in Großpapa Werner aus?
„Dass es mich freut, dass es noch jemand geschafft hat da unversehrt durchzukommen durch den Stacheldraht. Das freut mich.“
Die Absichten des Fotografen bestimmen die Bedeutung des Fotos nicht, das vielmehr zwischen den Launen und Loyalitäten der verschiedenen Gruppen, die etwas mit ihm anfangen können, seinen eigenen Weg geht.
Susan Sontag
Das Foto von Dimitar Dilkoff führt nicht nur zu unterschiedlichen Interpretationen. Verschiedene Leute sehen in dem Bild völlig Verschiedenes.
Tanja: „Die schlafen. Schaut aus wie in einem Zug.“
X: „Erschöpfte Flüchtlinge, die es geschafft haben in einem Zug irgendwie eine ruhige Sekunde zu finden um zu schlafen.“
Werner: "Es schaut so aus als wäre das im Innenraum eines Kastenwagens, wie wenn sie erstickt wären und es nicht geschafft hätten."
FM4 Auf Laut - "Augen zu" durch die timeline?
Über die Macht der Bilder in der aktuellen Situation sprechen wir in FM4 Auf Laut, am Dienstag, von 21-22:00, mit dem Kommunikationswissenschafter Michi Schöppl vom Verein ipsum, der Fotografie als Medium in der entwicklungspolitischen und interkulturellen Bildungsarbeit einsetzt.