Erstellt am: 9. 9. 2015 - 11:19 Uhr
"Wie die anderen"
Am Anfang sieht man einen Buben. Der Bub sagt: "Ich heiße Leonie". Aber halt, Leonie ist doch ein Mädchenname! Und dann sagt Leonie, ich möchte gerne sein wie die anderen.
"Wie die anderen" startet am Freitag, 11. September, in den österreichischen Kinos.
Leonie heißt nicht wirklich Leonie, genauso wie alle anderen Namen und Hinweise auf Orte im Nachhinein synchronisiert wurden, um die Protagonistinnen und Protagonisten des Films zu schützen. Und Leonie wird auch in "Wie die anderen" nicht wieder auftauchen, wir werden seine/ihre Fallgeschichte nicht kennen lernen, nicht detailliert erfahren, weshalb er oder sie als PatientIn in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des niederösterreichischen Landesklinikums Tulln ist. Zum Schutz der ProtagonistInnen.
Stadtkino Filmverleih
Wer nicht geschützt ist, und auch nicht geschützt werden muss, das sind wir, das Publikum. Wir sind irritiert, zu allererst von Leonie, später von Sophie, deren Arme vom krankhaften Ritzen zerfurcht und vernarbt sind, von einem Buben, der den Gang entlang kriecht. Nie sucht "Wie die anderen" den billigen Effekt und die Sensation, ist zurückhaltend und behutsam (und ist es damit letztlich auch mit uns, dem Publikum). In bester Tradition des direct cinema beobachtet er, ohne zu kommentieren, die Kamera ist einfach dabei, bei Therapiesitzungen genauso wie bei Supervisionen, Besprechungen, Beratungen unter dem Team von ÄrztInnen und TherapeutInnen, dem der Psychiater und Autor Paulus Hochgatterer vorsteht.
Drei Jahre lang hat Regisseur Constantin Wulff an dem Film gearbeitet, davon eineinhalb Jahre in Tulln gedreht. Bei aller dem Film eigenen Zurückhaltung, fragt man sich dennoch, wie war das möglich? Der Film beantwortet die Frage selbst, indem er etwa die scheinbar ärztlich notwendige (was ich nicht beurteilen kann), aber entwürdigende Maßnahme einer Fixierung nicht zeigt, beziehungsweise diese gar nicht gedreht wurde. Man bekommt nur mit, wie schwer sich das anwesende Personal angesichts einer mit Selbstmord drohenden Jugendlichen damit tut.
Wie es überhaupt kein einziges sensationelles (oder gar voyeuristisches) Bild gibt, das die nach der Uraufführung just dieses Films (im März) aufgekommene Diskussion rund um die Bloßstellung der Intimsphäre von Kindern und Jugendlichen gänzlich erklären könnte. Stattdessen scheint mir "Wie die anderen" eher dazu geschaffen, psychischen Erkrankungen das Stigma der Schuldbehaftung zu nehmen, was nun allerdings weniger breit diskutiert wird als die Intimsphäre und ihr juristischer Schutz. Auch ich denke, wie es Klaus Nüchtern im Falter (36/15) trefflich formuliert, dass diese Bilder "als digitale Zeitbomben der Denunziation" wenig taugen. Dazu müssten nämlich (junge) Menschen nichts anderes im Schilde führen, als ständig potentielle zukünftige Cybermobbingattacken vorzubereiten.