Erstellt am: 6. 9. 2015 - 14:27 Uhr
Johnny Depp kommt und alle drehen durch
Am Wochenende erreicht der Starrummel des Filmfests in Venedig für gewöhnlich seinen Höhepunkt. Dann kommt meist jemand vom Kaliber George Clooney oder Brad Pitt mit einem neuen Film, und Publikum und Presse rasten in gemeinsamer Ekstase aus. In diesem Jahr heißt der Megastar der Mostra Johnny Depp. Er kam mit der Weltpremiere des Gangsterdramas „Black Mass“ über den berüchtigten Bostoner Ganoven James Bulger, Sohn irischer Einwanderer, der sich als Informant mit dem FBI einlässt, um die italienische Mafia als Konkurrent auszuschalten. Im Gegenzug lässt man ihn jahrelang ungeschoren mit seinen Drogengeschäften und Morden davonkommen. Und während er skrupellos jeden kalt macht, der sich ihm in den Weg stellt, kümmert er sich gleichzeitig liebevoll um seine alte Mutter, die er beim Kartenspielen absichtlich gewinnen lässt.
Johnny Depp spielt diesen Typen mit schütterem Haar so brillant furchteinflößend, dass er jetzt schon als Oscarkandidat gehandelt gilt. Zumindest ist es seine beste Performance seit Langem. Der Film dürfte aber auch den endgültigen Aufstieg in die A-List für den Australier Joel Edgerton bedeuten, der sich als halbseidener FBI-Agent von Johnny Depp in keiner Szene an die Wand spielen lässt. Im Insterview für FM4 in einem alten Palazzo am Canal Grande gibt sich Edgerton bescheiden. In der Vergangenheit habe es oft genug Phasen gegeben, in denen er vergeblich auf Rollen wartete. „Ich habe gelernt, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben und nichts für selbstverständlich zu halten.“ Ein unabhängiger Geist mit einem Plan B: „Vielleicht wechsle ich auch irgendwann ganz hinter die Kamera und führe nur noch selbst Regie.“
La Biennale
Für einige Stunden läuft auf dem Lido abseits der Leinwand ein ganz eigener Film, nennen wir es mal „The Johnny Syndrome“. Und es ist sehr schön zu beobachten, wie Menschen beim Anblick dieses scheinbar gottgleichen Stars gleich reihenweise den Verstand verlieren. Muss die Aura sein. Los geht’s mittags mit der Pressekonferenz. Die ist mit Hunderten Journalisten gepackt voll, selbst auf den Gängen und Treppen zwischen den Stuhlreihen ist kein Durchkommen mehr. Die Kollegen prügeln sich förmlich darum, eine Frage zu stellen, die dann komischerweise selten über Floskeln hinausgeht. Johnny Depp nimmt’s gelassen, er kennt den Quatsch ja hinlänglich. Als jemand fragt, ob er seine beiden Yorkshire Terrier mitgebracht hat, um ihnen auf einer Gondeltour Venedig zu zeigen, antwortet er: „Ich habe meine Hunde getötet. Und aufgegessen.“ Warum auch über Film reden?
Unterdessen wird draußen auf der Grünfläche neben dem Palazzo del Cinema, wo fettige Pizzaecken an Jugendliche und ausgehungerte Festivalbesucher verkauft werden, auf einem Großbildschirm die im Gebäude stattfindende Pressekonferenz übertragen. Als Johnny Depp im Close Up auftaucht, zückt eine Gruppe Teenagermädchen aufgeregt ihre Handys. Und reihum machen sie Selfies: ICH mit Johnny. Sieht auf Instagram sicher super aus. Aber das reicht ihnen nicht. Also macht eins der Mädchen auch noch ein Foto von ihrer Freundin, die ein Foto mit der Leinwand macht, auf der gerade Johnny Depp zu sehen ist. Metagaga.
La Biennale
Andere hatten schon ab morgens um 6 Uhr am Roten Teppich campiert, um bei der Premiere abends einen möglichst guten Blick auf ihren Star zu haben. Am Ende sind es dann mehrere Hundert, die „Johnny, Johnny“ rufen. Als er kurz nach 19 Uhr zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Amber Heard, in einer schwarzen Limousine anfährt, gibt es kein Halten mehr. Unter ohrenbetäubendem Gekreische kritzelt er Autogramme und posiert für Selfies mit Fans. Ehrensache, wie er am Nachmittag auf der Pressekonferenz gesagt hat: „Ich mag das Wort Fans nicht. Diese Leute da draußen sind unsere eigentlichen Arbeitgeber, denn sie sind es, die ihr Geld für ein Kinoticket ausgeben, um uns zu sehen.“
Universal Pictures
Der einzige Star war er freilich nicht an diesem Wochenende. Eddie Redmayne kam mit dem Drama „The Danish Girl“, das ihm den zweiten Oscar in Folge einbringen könnte. Er spielt den dänischen Landschaftsmaler Einar Wegener, der sich in Anfang der Dreißiger Jahre als einer der ersten einer Geschlechtsumwandlung unterzog und als Lili Elbe zur Transgenderikone wurde. Redmaynes Transformation ist eine Sensation, jede Pose und jede Geste beeindruckend authentisch, aber er muss sich durch unzählige Postkartenkitschmotive spielen, die Regisseur Tom Hooper in seinem arg konventionellen Melodram wenig subtil auf die Leinwand kleistert.
Viel Ästhetik und wenig Substanz auch in der Science Fiction Romanze „The Equals“ mit Kristen Stewart und Nicholas Hoult über eine totalitäre Zukunftswelt, in der Gefühlsregungen für eine Viruserkrankung gehalten werden und eliminiert werden müssen. Natürlich verlieben sich die beiden, dürfen aber nicht zusammenkommen und planen die Flucht aus dieser sterilen Stahl-Beton-Glas-Hölle. Man kann es ihnen nicht verübeln, denn das Universum, das Regisseur Drake Doremus da inszeniert hat, ist mit seiner grandiosen Architektur zwar hübsch anzuschauen, aber hinter den glatten Oberflächen klaffen nur dramaturgische Logiklöcher in einer recht dünnen Geschichte.
Jaehyuk Le
Auf den herausragenden Film des Festivals müssen wir also noch warten. Und manchmal muss man einfach früher aus dem Kino, um endlich etwas völlig Unerwartetes zu sehen. So wie am Freitagnachmittag, als der xte Afghanistankriegsfilm, diesmal aus Dänemark, aber mit den ewig gleichen Bildern, auch nach über einer Stunde nichts Neues erzählte, schleiche ich aus dem Saal. Es hat zu nieseln angefangen und am Horizont erscheint in vollster Pracht: der perfekte Regenbogen. Wie gebannt schauen alle in den Himmel. Für einen Moment kann da auch das Kino nicht mithalten.
FM4 / Thomas Abeltshauser