Erstellt am: 7. 9. 2015 - 16:09 Uhr
... die Böses will und viel zu viel schafft
Der erneut sehr umfangreiche Roman des US-amerikanischen Bestsellerautors Jonathan Franzen trägt den Titel „Unschuld“. Viele Personen, viele Orte, viele Erzählstränge: Die komplex erzählte Geschichte gipfelt in einem Vergleich Internet versus DDR. Klingt kompliziert, ist es auch.
Rowohlt Verlag
In gefühlt hunderte Handlungsstränge unterteilt, versucht der Roman, sie an einem Faden zusammenzuhalten: an der Figur des Andreas Wolf, aufgewachsen in der ehemaligen DDR. Mit sprechendem Namen ausgestattet, ist es der Whistleblower – eher in Manier eines charismatischen Julian Assange denn eines schüchternen Edward Snowden – den man als Leser zugleich schätzen und hassen lernt. Dieser Wolf, der den Schafspelz nicht einmal metaphorisch trägt, führt etwas an, was man ein „moralisches“ Wikileaks nennen könnte. Unter anderem werden also durchaus auch private Fehltritte wie Seitensprünge aufgedeckt. Seine Enthüllungsplattform, die nach der etwas plump geratenen Maxime „Sonnenlicht desinfiziert am besten“ vorgeht, ist Anknüpfungspunkt für alle Geschichten: die Suche nach Läuterung, Reinheit und Klarheit (die deutsche Übersetzung in „Unschuld“ – englisch „Purity“ – ist deshalb nicht wirklich geglückt). Jonathan Franzen ist als Social Media – bzw. generell als Internetkritiker bekannt, was auch in „Unschuld“ schnell zwischen den Zeilen herauszulesen ist.
Streicht man die Figur des Andreas Wolf, der metaphorisch für das große, manipulative Netz steht, in dem die Figuren baumeln, haben wir hier aber trotzdem, Franzen-getreu, eine Familiengeschichte vorliegen. Der zweite große Erzählstrang handelt von „Purity“. Sie ist eine junge Frau, die lieber „Pip“ gerufen werden will - sie schämt sich ob dieses überbelasteten Namens, den ihr ihre Mutter, eine manisch-depressive, schwierige Frau, wie ein Päckchen mit auf den Weg gegeben hat. Selbst von Schulden überhäuft, die sie aufgrund des Studiums auf sich genommen hat, ist sie auf der Suche nach ihrem Vater, die sie schließlich in die Arme von Andreas Wolf treibt. Dieser sitzt mittlerweile, weil in vielen Ländern gesucht, in Bolivien und dirigiert sein Projekt von dort aus. Pip wird ihm vom Autor als schlagfertige Opposition entgegengestellt, als geistesgegenwärtige, tapfere junge Frau, die einem heuchlerischen Mephisto der Jetztzeit, des Internets, entgegentritt. Nicht umsonst schmunzelt man beim Aufschlagen des Buches, wenn Franzen sich gewollt pathetisch auf einen der größten deutschen Dichter bezieht: ... die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Beowulf Sheehan
Dass Jonathan Franzen ein Meister psychosozialer Erklärungsmodelle ist, steht seit seinen letzten beiden großen Romanen („Die Korrekturen“, 2001 und schon erwähnt „Freiheit“, 2010) fest. Nun verläuft sich der Autor aber in einer schwierigen Situation: Seine beinahe schon epischen Familienpanoramen, die er bewusst auch an einem Ort, nämlich in der gutbürgerlichen amerikanischen Mittelschichts-Familienresidenz lokalisiert hat, lässt er hinter sich. Die Familie – die kaputte Familie – steht nichtsdestoweniger weiterhin im Zentrum, nur, dass sich Franzen nun abmüht, diese über den ganzen Kontinent zu treiben. Bislang waren seine Hauptcharaktere wohlbehütet im Familienheim untergebracht, es waren mehr die inneren als die äußeren Umstände, die ihnen zu schaffen gemacht haben. In „Unschuld“ hängen die Figuren beinahe wie in einem Spinnennetz, getrieben von Manipulation an jeder Ecke, fest. Immer zum Zweck des fremden Vorteils manipuliert jeder der Hauptcharaktere auf seine Art und Weise: Sei es die verrückte Mutter, die ihrer Tochter keine Familiengeheimnisse anvertrauen will, um diese nicht zu verlieren oder der Chef einer politischen Aufdeckungs-Plattform, der seine Mitarbeiter dahintreibt, wo er sie gerne hätte.
Etwas verloren, gar zerrissen wirkt der neue Roman Jonathan Franzens. Nicht nur, dass die Wahl, den Roman teilweise in der DDR spielen zu lassen, etwas willkürlich scheint. Wurde den Protagonisten das Heim, das ein so wichtiger Anknüpfungspunkt seiner Familienromane gewesen ist, genommen, müssen sie es sich jetzt anderswo suchen. Franzen versucht, DDR und Internet in einem schwierigen Vergleich gegenüberzustellen: das Stasi-Spionagetum liegt hinter uns, beginnt aber gleichermaßen auf einem völlig neuen Level. Das Internet kann alles und will alles, vor allem aber einen totalitären Zugriff auf die User. In dieser Kritik liegt die Kraft und gleichzeitig die Schwäche des Romans, weil sie viel Spannung vorwegnimmt, auch wenn das Buch in rasantem Galopp von einem Ereignis zum nächsten huscht. Jonathan Franzen hat seinen ersten persönlichen Enthüllungsroman geschrieben, wenn auch auf fiktiver Ebene – nur ist das leider nicht sein Fachgebiet.