Erstellt am: 4. 9. 2015 - 15:03 Uhr
Ship happens
Nachsehen, wo genau sich die MS Seawatch aktuell befindet: hier
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- Leben auf See retten: Das Zustandekommen der Privatinitiative Sea Watch
Mit Rettungsinseln, Schwimmwesten und hunderten Flaschen Wasser an Bord durchkämmt die MS Seawatch das Dreieck zwischen Libyen, Tunesien und Malta. Ursprünglich hatte eine Gruppe von Familien aus Brandenburg die Idee, ein Schiff zu kaufen, um selbst zu helfen, wo die Politik versagt: im Mittelmeer, wo viele versuchen, mit kaum hochseetauglichen Booten nach Europa zu gelangen. Dank einer erfolgreichen Spendeninitiative wurde schließlich ein ehemaliger Fischkutter umgerüstet. Von Lampedusa aus sticht gerade die sechste Crew in Folge in See. Hunderte Menschen hat die Seawatch heuer schon gerettet. Schiffsarzt Frank Dörner erzählt von den Einsätzen am Mittelmeer.
Seawatch
Johanna Jaufer: Wie bist du als Arzt denn Teil des Projekts Seawatch geworden?
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Frank Dörner: Ich bin zufällig dazu gekommen. Ich habe im Radio eine Sendung gehört, in der über das Projekt berichtet wurde. Ich habe es spannend gefunden: eine zivilgesellschaftlich organisierte Gruppe, die gesagt hat, wir können uns das nicht länger ansehen, was hier ständig über den Äther kommt. Wir können nicht mehr akzeptieren, dass die (deutsche) Politik so schlecht darauf reagiert und es kann nicht sein, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, wo wir alle Möglichkeiten haben, sie zu retten. Ich bin mit den Seawatch-Organisatoren in Kontakt getreten, seit März dabei gewesen und war auch schon von Beginn weg im Einsatz.
Du hast also miterlebt, wie die erste Crew losgefahren ist und noch nicht genau wusste, wie es werden wird.
Das Boot war früher ein Hausboot, in Holland gekauft und in Hamburg aufgerüstet. Es wurde schlussendlich nach Lampedusa überführt - es gab also dann schon Leute, die auch damit gefahren sind. Es wurden erste Test-Tours durchgeführt, um zu sehen, ob alles funktioniert, bevor wir als erste Einsatz-Crew angelandet sind. Wir haben unser Team erst vor Ort kennengelernt und dort "Teambuilding"gemacht.
Erinnerst du dich an das erste Mal, als ihr aufs Meer rausgefahren seid?
Ja sicher. Erst mal hat sich alles etwas verzögert, weil noch technische Probleme zu beheben waren: Das ist ein hundert Jahre altes Schiff, es muss ständig irgendetwas repariert werden und es ist nie "perfekt". Wir brannten natürlich darauf, end loszufahren, nachdem wir uns die ersten drei Tage eingelebt und als Crew kennengelernt hatten. Als wir losgefahren sind, war auf der einen Seite die Aufregung natürlich groß: Es gab natürlich viele Befürchtungen: Was passiert, wenn ein Boot untergeht, wie geht man damit um, sollte man etwa Ertrinkende vielleicht nicht retten können, was machen wir, wenn wir Aggressionen gegenüberstehen. Auf der anderen Seite war klar dass wir dort waren um den Leuten beizustehen, weil wir wussten, dass jeden Tag in diesem Meer Menschen ertrinken - insofern brannten alle darauf loszufahren und es war auch ein erhebendes Gefühl, loszufahren.
Deine Rolle als Arzt der Crew: Wie genau kann man sich auf konkrete Situationen vorbereiten?
Es war klar, dass die Seawatch mit ihren 21 Metern nie in der Lage sein würde, eine große Zahl von Menschen aufzunehmen. Das war auch nie das primäre Szenario. Wir wussten: wir wollen hin, Notfhilfe leisten und die Menschen bestmöglich unterstützen bis große Schiffe in der Lage sind, sie aufzunehmen und sicher an Land zu bringen. Insofern waren wir aus medizinischer Sicht auf Einzelfallunterstützung ausgerichtet und wussten, dass wir keine groß angelegten medizinischen Interventionen für eine große Anzahl an Leuten machen können. Wir haben überlegt, in Einzelfällen auch einzelne Personen an Bord nehmen zu können, um intensiver Medizin machen zu können, Schmerzmittel und Infusionen verabreichen zu können. Aber auch das unter sehr einfachen Bedingungen: Wir sind kein medizinisches Projekt, dafür sind andere besser ausgestattet und das ist auch nicht der primäre Ansatz. Wir wussten auch, dass die meisten Situationen mit denen wir konfrontiert sein würden, nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind. Trotzdem haben wir uns Szenarien überlegt, wie man zum Beispiel einen Verletzten unter Umständen bei hoher See von einem Schlauchboot auf unser Boot bekommt, ohne noch mehr Schaden zuzufügen.
Kann man sich vorher vorstellen, wie sich die Begegnung mit Menschen in Seenot abspielt? Sind das sehr unterschiedliche Situationen?
Ja. Wir waren etwa zehn Tage unterwegs, wir haben an diesen Tagen sechs Einsätze gehabt während derer wir Boote getroffen haben, in denen hundert oder sogar 120 Menschen auf extrem engem Raum zusammen waren. Dann kann man sich vorstellen, dass diese Menschen natürlich auch völlig unterschiedliche Situationen erlebt haben. Einige waren Stunden, andere schon tagelang unterwegs und hatten schon lange kein Wasser mehr. Das sind natürlich Situationen, die eine ganz andere Realität schaffen. Bei manchen Booten waren Frauen und Kinder an Bord. Wir hatten auch die Situation, dass Verletzte an Bord waren. Dann hängt es natürlich auch noch davon ab, wie sich die Menschen untereinander verstehen in so einer Situation. Wenn schon von Anfang an Konfliktpotential vorhanden war, ist es natürlich eine ganz andere Situation. Insofern kann man sagen: Es ist jedes Mal etwas anderes. Man lernt unglaublich viel. Es gibt kein "Schema F" für solche Situationen. Das Wichtige ist, das Vertrauen herzustellen, und dann die Verantwortung auch bei den Menschen selbst zu lassen und zu sagen, "zu einem bestimmten Teil können wir euch vorschlagen, wie wir's machen und ihr müsst es praktisch umsetzen, denn letztendlich seid ihr handelnde Subjekte".
Es ist wieder soweit die #SeaWatch verlässt den Hafen von Lampedusa. Wir wünschen #Crew6 Kraft, Mut und Zuversicht. pic.twitter.com/ypvtEjZZQB
— Seawatch (@seawatchcrew) 3. September 2015
Ich habe Material gesehen, das dokumentiert, wie ihr mit der Küstenwache in Kontakt seid, Bescheid bekommt, dass ihr die einzigen in der Nähe einer Krisensituation seid, aber etwa auch, wie ihr die ausgebrachten Rettungsinseln (zum "Umsteigen" bis Schiffe da sind, die die Menschen an Land führen) an ein nahes Handelsschiff heranbringt. Wie erlebst du sowas? Ich habe auch schon von Vereinigungen von Handelsschiffen/Crews gelesen, die sich an die Politik richten und sagen, "tut was, wir sind nicht dafür ausgerüstet".
Das ist sicher richtig. Grundsätzlich besteht ja eine Verantwortung der man sich nicht entziehen kann - in dem Moment, wo ein Notruf da ist, auch Hilfe zu leisten. Das ist im Seerecht ganz klar geregelt. Wir waren oft die ersten die vor Ort waren, aber dann kamen natürlich die anderen, die Menschen an Bord "übernommen" haben. Das war auch die Grundidee: Wir übergeben und assistieren in dem Moment an größere Schiffe. Ich habe es konkret mit einem Tanker erlebt, wo die die Menschen in ihrem Zustand, in ihrer ganzen Erschöpfung, der Verzweiflung die damit häufig auch verbunden ist, auf dieses Schiff raufnehmen. Diese Crews sind oft mit einer Situation konfrontiert, die sie häufig noch nicht erlebt haben. Die stehen dann auf diesen Handelsschiffen mit relativ wenigen Leuten einer relativ großen Gruppe anderer Menschen gegenüber, die sie so noch gar nicht kennen, deren Hintergrund sie gar nicht kennen. Damit sind natürlich Ängste verbunden, was bringen die für Erkrankungen mit, sind die aggressiv... Hier haben wir unter anderem auch konkret versucht, zu vermitteln und wir haben natürlich die medizinische Versorgung auch dort sichergestellt.
Ihr habt in Lampedusa eine Art "Backoffice", wo ein Teil der Crew die Einsätze des Schiffs vom Land aus mitkoordiniert.
Das ist richtig. Das Team dort ist unterstützend und organisiert die Logistik mit. Damit mit den neuen Crews die jeweils alle zwei Wochen kommen, ein Handover stattfindet. Da ist viel zu organisieren: Es muss Material beschafft werden, erneuert werden, es müssen Lebensmittel beschafft werden. Es muss natürlich auch eine Verbindung mit den jeweils Verantwortlichen auf Lampedusa bestehen. Man braucht also ständig Leute die - auch länger - vor Ort sind, um ein Netzwerk zu bilden und auch in Kontakt mit anderen Akteuren zu bleiben und am Laufenden zu sein. Wir haben auch psychologische Unterstützung für unsere Crew, auch nach belastenden Rettungssituationen. Es gab jetzt auch Situationen, wo Tote zu beklagen waren, und das ist natürlich - auch wenn man nicht direkt involviert war - eine direkte Berührung mit etwas, das man sonst so einfach nicht erlebt und nicht kennt.