Erstellt am: 3. 9. 2015 - 17:49 Uhr
Notstand in der Ägäis
Laut UN-Flüchtlingsrat sind in Griechenland bis Ende August mehr als 200.000 Schutzsuchende angekommen, mehr als 90.000 von ihnen allein auf Lesbos, so die griechische Küstenwache. Auf der Ägäis-Insel, die selbst nur 85.000 Einwohner zählt, landen täglich Hunderte, manchmal Tausende. Unter ihnen befinden sich viele Familien aus Syrien, Afghanistan und Somalia, aber auch eine große Anzahl von körperlich Behinderten, Kranken, Schwangeren und Folteropfern. Außer dem selbstorganisierte Welcome Center für Flüchtlinge PIKPA gibt es keine Stelle, wo sie unter menschenwürdigen Bedingungen unterbracht werden können.
Anfang der Woche befanden sich auf der Insel mehr als 13.000 Flüchtlinge und Migranten. Die meisten werden nach einiger Zeit mit Fähren aufs Festland gebracht und versuchen von dort aus ihre Reise nach Mitteleuropa fortsetzen.
Die lokalen Behörden sind mit der Situation mehr als überfordert, die NGOs und das starke lokale Solidaritätsnetzwerk versuchen, die Versorgungslücken zu füllen. Obwohl auch mehrere internationale Organisationen vor Ort sind, ist der Bedarf an humanitärer Hilfe enorm. In einer Mitteilung von 24. August wies Amnesty International darauf hin, dass die schlechte Koordination und der sehr große Mangel an Infrastruktur und Personal schreckliche Bedingungen für Flüchtlinge und Migranten auf der Insel schaffen. "Viele von ihnen sind auf die lokalen ehrenamtlichen Helfer, die Aktivisten der NGOs, die UNHCR und Touristen angewiesen", so Amnesty International.
Salinia Stroux
Am Mittwoch forderte der Bürgermeister der Insel, Spyros Galinos, von der Übergangsregierung in Athen den Notstand auf der Insel auszurufen. Er beschrieb katastrophale hygienische Zustände im Hafen von Mytilene, dem Hauptort der Insel, und warnte gleichzeitig, dass viele Einheimische, vor allem Geschäftsleute, um die eigene Existenz fürchten. Die Regierung hat am Donnerstag in einen Aktionsplan unter anderem eine finanzielle Unterstützung der Inseln angekündigt, die die meisten Flüchtlinge und Migranten empfangen, sowie die Beschleunigung der Registrierung und Identifizierung von Schutzsuchenden.
Außer im Hafen ist die Situation auch vor dem Haftlager Moria und in den naheliegenden Zeltlagern besonders kritisch. In Moria, ein paar Kilometer außerhalb von Mytilene, sind hunderte Zelte und improvisierte Unterkünfte aus Kartons und Plastik zwischen Olivenhainen und Müllbergen entstanden. Es gibt zu wenige Sanitäranlagen und grundlegende Dinge für die Versorgung dieser Menschen. Da das Essen nicht ausreichend ist, kochen viele im Freien mit offenem Feuer, was wiederum zu einer hohen Brandgefahr führt, da die Zelte meistens zwischen Olivenbäumen aufgestellt sind. Immer wieder kommt es bei der Essensverteilung auch zu Gewalt gegen die hungrigen Flüchtlinge, um "die Ordnung aufrechtzuerhalten".
Salinia Stroux
An diesem Nachmittag ist es einigermaßen ruhig. Flüchtlinge aus Afghanistan und Somalia stellen sich in eine lange Schlange vor den Lastwagen einer Catering-Firma, die Abendessen verteilt: Eine magere Portion aus Reis und Erbsen in einem Plastikbecher. Eine hochschwangere Afghanin wartet mit ihren beiden Kindern ebenfalls dort. Europa hatte sie sich anders vorgestellt. "Keiner kümmert sich um uns. Es gibt keine Unterkunft, nicht ausreichend zum Essen, der Ort ist dreckig und keinen interessiert es, wenn wir wegen dieser Umstände krank werden." Sogar in der Türkei waren die Bedingungen für die Flüchtlinge besser, sagt sie enttäuscht.
Am Vorabend ist eine Frau aus Somalia vor dem Lager an Herzversagen gestorben, eine andere musste ins Krankenhaus transportiert werden, weil sie von einer Schlange gebissen wurde. Der Bedarf an ärztlicher Betreuung ist immens: Ständig trifft man im Zeltlager auf Menschen, die nach einem Arzt fragen, weil sie Magenprobleme, Fieber oder einfach Schmerzen von Verletzungen und Kriegswunden haben.
Salinia Stroux
Die 28-jährige Afghanin schläft seit zwei Tagen zusammen mit ihrer Familie in einem Zelt ein paar Meter neben dem Eingang des Haftlagers. Wie alle anderen, die hier unter freiem Himmel campieren, warten sie darauf, die nötigen Dokumente zu bekommen, um ihre Reise nach Mitteleuropa fortzusetzen. Obwohl sie hochschwanger ist, hat sie bis jetzt keiner der Ärzte der internationalen Organisationen, die hier tätig sind, besucht. Mit Hilfe einer Aktivistin vom Netzwerk "Welcome to Europe" hat sie aber einen Frauenarzt im lokalen Krankenhaus aufgesucht. Er hat ihr gesagt, dass sie in weniger als 25 Tagen ihr Kind bekommen wird. Trotzdem will sie ihre Reise nach Mitteleuropa fortsetzen und keinen Tag mehr auf Lesbos bleiben. "Ich habe ständig Angst, dass mir und meiner Familie etwas Schlimmes passieren wird. Ich hoffe, dass, wenn wir in ein anderes Land kommen, die Situation besser ist. Unser Ziel ist Deutschland", sagt sie.
Ein paar Meter weiter liest Ali Reza aus Afghanistan leise ein paar Ausdrücke auf Deutsch aus einem kleinen Wörterbuch. "Es freut mich sehr", sagt er mit einem breiten Lächeln als wir uns begegnen. Der 20-jährige will ebenfalls nach Deutschland. Sein Bruder studiert in Frankfurt und er will zu ihm und dort Asyl beantragen. Seit einer Woche schlafen er und seine Freunde gleich vor dem Eingang des Haftlagers auf ein paar Kartons. Die Polizeibeamten haben die Liste mit ihren Namen verloren, wahrscheinlich wegen der großen Arbeitslast, erklärt er. "Wir sind eine Gruppe von 22 Personen. Die Polizei hat uns versprochen, uns morgen zu registrieren. Dann hoffen wir die Fähre zum Festland nehmen zu können", sagt er.
Salinia Stroux
Der stellvertretende Direktor des Haftlagers von Moria, Dimitrios Moutsias, eilt durch die kleinen Container hinter dem hohen Zaun. Tag und Nacht arbeiten die insgesamt elf Polizeibeamten, um die Flüchtlinge zu registrieren und das Haftlager zu verwalten. Täglich werden die Fingerabdrücke von bis zu 600 Menschen abgenommen. Derzeit gibt es über 760 Personen im Lager selbst und nochmal mehr als 4000 draußen im Zeltlager, die darauf warten registriert zu werden.
Der Mangel an Polizisten ist eines der Hauptprobleme, betont Moutsias. "Der Arbeitsaufwand ist im Moment fünfmal so groß wie er vorher war. Wir brauchen mehr Personal. Das ist eine sehr große Anzahl von Menschen, mit der wir es hier zu tun haben. Manchmal tun wir viel mehr als unser Zuständigkeitsbereich ist. Wir transportieren Menschen ins Krankenhaus, wir agieren als Sozialarbeiter oder Dolmetscher."
Am Dienstag wurden Spezialeinheiten der Polizei nach Lesbos, aber auch nach Kos (wo ebenfalls sehr viele Flüchtlinge und Migranten ankommen) geschickt. Immer wieder kommt es zu Spannungen zwischen den erschöpften Flüchtlingen und Migranten die stundenlang unter der heißen Sonne warten um registriert zu werden.
Ein paar Kilometer von Moria entfernt, in einem Zeltlager für syrische Flüchtlinge in Kara Tepe, bittet der 39-jährige Tamam Mitglieder von internationalen Hilfsorganisationen um eine Decke. Der Ingenieur ist vor zwei Tagen auf Lesbos angekommen. Er musste stundenlang zu Fuß gehen, bis er die Polizeistation erreichen konnte, um sich registrieren zu lassen. Und dann entschied sich zum ersten Mal in seinem Leben dafür, auf der Straße zu übernachten, weil er es im überfüllten Camp einfach nicht aushalten konnte.
"Wir sind sehr müde. Unsere Füße tun weh. Sie haben mir gesagt ich soll in diesem Zeltlager bleiben, ohne ausreichendes Essen und Sanitäranlagen. Ich werde nicht hier schlafen. Ich werde in Mytilene irgendwo auf der Straße übernachten." Dann fragt Tamam nach der Situation in Ungarn, Österreich und Deutschland. Er hat in den sozialen Medien gelesen, dass auch in Mitteleuropa mittlerweile Zeltlager für die Flüchtlinge aufgebaut werden sollen. Er hofft, so schnell wie möglich nach Deutschland zu kommen um seine Familie, die noch in Damaskus ist, nachzuholen. "Wir wollen nichts anderes als ein Land mit Frieden. Wir rennen den Frieden hinterher!", sagt er zum Abschied.
Seit über die Situation der Flüchtlinge auf der Insel und die Überforderung der lokalen Behörden international berichtet wird, hat sich eine wichtige Solidaritätsbewegung gebildet, wie z.B die Facebookseite "Help for refugees in Molyvos" oder crowdfunding.justgiving.com/lesvosrefugees.
Salinia Stroux
Touristen bringen aus ihrer Heimat Kleidung, Medikamente und andere nötigen Sachen mit, und manche Fluggesellschaften erlauben diesen Passagieren mehr Gebäck mitzunehmen, als eigentlich erlaubt ist.
Das starke lokale Solidaritätsnetzwerk hat zu diesem sehr kritischen Zeitpunkt einen schweren Verlust erlitten. Am Mittwoch ist der orthodoxen Priester Efstratios Dimou, bekannt als Papa-Stratis, an einer Krebserkrankung gestorben. Er hat die NGO Agkalia gegründet, die seit 2007 Tausende von Flüchtlingen und Migranten unterstützt hat. Die letzten Jahre litt er unter anderem an einer Atemwegserkrankung und musste ständig durch ein Gerät Sauerstoff bekommen, was ihn aber nicht davon abgehalten hat, sich um die Bedürftigen zu kümmern.
Die Botschaft von Papa-Stratis, der wegen seiner Aktion weltweit bekannt ist, war Liebe: "Wenn du eines Morgens einen Menschen siehst, den das Meer an die Küste von Lesbos spült, und ein weinendes Kind und seine weinende Mutter , wirst du nie den Mund öffnen, um zu fragen, ob sie Christen sind, um sie zu speisen", ordnete er seinen Mitbürgern auf Lesbos an. "Diese Menschen sind nicht Migranten. Es ist nicht ihre Wahl hierher zu kommen. Es sind die Kinder des Krieges, die den Kugeln entfliehen wollen", sagte er über die Flüchtlinge und Migranten, die auf Lesbos ankommen. "Ich ermuntere euch, täglich für den Frieden und die Liebe zu kämpfen. Nur so können wir uns selbst Menschen nennen", waren seine letzten Worte auf seiner Facebook- Seite.