Erstellt am: 3. 9. 2015 - 14:30 Uhr
Not the British way?
Ich hatte einen komischen Sommer. Ende Juli nach Wien, dann wieder England, dann wieder für eine Woche nach Wien und zurück nach England, nicht von Belang jetzt warum. Aber es war ein Wechselbad der Wahrnehmungen und ist es immer noch auf meinen Timelines.
Wie immer muss man relativieren, was einem die selbstgefüllte Konsensblase mitteilt, aber in dieser, meiner ersten Woche wieder zurück in England werde ich das Gefühl nicht los, dass dieses spürbare Kippen der Stimmung in Österreich und Deutschland in Richtung Menschlichkeit (von dem ich euch nichts zu erzählen brauche, das kriegt ihr selber mit) so langsam auch auf dieses Land hier überschlägt.
Zeit wird’s.
Bisher war ja auch auf der angeblich für internationale Solidarität zuständigen Linken in Großbritannien wenig Abweichung von der medialen und Regierungsdoktrin zu merken, die die akute Flüchtlingskrise beharrlich als von den britischen Wachstumszahlen und dem Traum vom Flachbildschirm motivierte Migrationslaune der ungekämmten Massen von da unten her umdeutet.
Keine Spur vom in Österreich und Deutschland so omnipräsenten „Refugees Welcome“, einem Slogan, der – wie ich dem heutigen Guardian entnehme – 2007 von Celtic-Fans eingeführt wurde. Hätte man mich letzte Woche gefragt, ich hätte gesagt, die Briten leben bezüglich der Flüchtlingskrise in einem insularen Paralleluniversum.
Doch gestern, als David Cameron routiniert seine Linie runterleierte, dass es keine Lösung der Flüchtlingskrise sei, „mehr und mehr von ihnen aufzunehmen“, sondern man halt in Syrien und Libyen Sicherheit schaffen solle (zu lesen als Code für mehr Bombenwerfen und vorbereitete Herausforderung an die nationale Loyalität des kommenden Labour-Chefs, der mit ziemlicher Sicherheit Jeremy Corbyn heißen wird), wirkte er mit einem Mal auch aus heimischer Sicht auffällig weltfremd.
Der Premier dachte, er spreche dem Volk nach dem Mund, aber als die Phrasen aus ihm hervorsprudelten, wollte man dazu partout nicht den Applaus der Spießer_innen rauschen hören
(Siehe dazu John Harris' heutige Kolumne).
Denn die Nachrichten von den Flüchtlingsmassen, die am Kontinent angekommen sind, und dringend Unterkunft und Verpflegung bzw. menschenwürdige Behandlung brauchen, spotten ganz offensichtlich dem paranoiden britischen Narrativ des Hafens bzw. der Eurotunnel-Einfahrt von Calais als unwiderstehlichem Magnet bedrohlicher Menschenschwärme. Immer öfter wird dagegen das schwer idealisierte historische Selbstbild Großbritanniens als großmütiger Aufnahmeort für die Verfolgten der Welt zitiert.
Yvette Cooper, die in Umfragen abgeschlagen an dritter Stelle liegende Kandidatin im Kampf um die Labour-Führung, sprach Anfang der Woche von jenem "britischen Weg" und rief konkret die Kindertransporte nach Großbritannien im Zweiten Weltkrieg ins Gedächtnis, als Tausende Kinder verfolgter Familien aus Deutschland auf der Insel Zuflucht vor dem mörderischen NS-Regime fanden.
Ohne hier jetzt auf die Widersprüche der damaligen Asylpolitik von Großbritannien einzugehen (dafür ist ein österreichisches Medium vielleicht nicht der erstgeeignete Ort): Die von Yvette Cooper vorgeschlagene Zahl von 10.000 syrischen Flüchtlingen, die Großbritannien zusätzlich zu den bisherigen rund 200 aufnehmen sollte, wurde Anfang der Woche vom Medienmainstream noch als mutig unpopulärer Vorstoß aufgenommen. Jetzt, wo sich die Zahl der 800.000 bis einer Million, die Deutschland erwartet, in der britischen Berichterstattung herumgesprochen hat, wirkt sie bereits peinlich bescheiden.
Nachdem gestern jenes eine symbolische Bild unter vielen eines an der Küste der Türkei ertrunkenen syrischen Kleinkinds mit viraler Unausweichlichkeit seinen Weg in die hiesige Wahrnehmung gefunden hatte, hat sogar die rabiat xenophobe britische Massenzeitung The Sun den Kurs gewechselt.
„It's Life & Death“ ist ihre heutige Schlagzeile, dazu die Worte: „Mr Cameron, Summer is over, now deal with the biggest crisis facing Europe since WW2“.
Gleichzeitig löschte die Sun übrigens ihren alten Promo-Tweet zur Bewerbung der Kolumne ihrer kontroversen Autorin Katie Hopkins mit dem berüchtigten Zitat: „Zeigt mir Körper, die im Wasser treiben, lasst Geigen spielen, zeigt mir magere Leute, die traurig aussehen. Mir ist es immer noch egal.“
Die Einschätzung des Boulevards, was beim eigenen Publikum gut kommt, hat sich offenbar grundlegend geändert.
Ja, sogar die ewig narkoleptische britische Zivilgesellschaft reibt sich bereits die Augen. Gestern tauchte auf meinem FB-Feed zum ersten Mal ein Aufruf zu einer Pro-Refugees-Demo in London am 12. September auf. Da wird vielleicht noch was draus.
Solidarity with Refugees
Angesichts des Erstarkens von UKIP vor den Unterhauswahlen war ja hierzulande (wie auch in Österreich) viel von dem Bedürfnis nach einem alternativen, „linken Populismus“ die Rede gewesen.
Was dagegen sprach, war immer, dass der Rechtspopulismus mit seinem Pochen auf die (scheinbaren) Eigeninteressen einer Nation, eines Volks, einer Gesellschaftsschicht, des Individuums direkt an animalische Überlebensinstinkte appellieren kann, während der Linkspopulismus einer Grundlage an sozialem Bewusstsein bedarf, die der atomisierten Lebenserfahrung des 21. Jahrhunderts widerspricht.
Die „Refugees Welcome“-Bewegung zeigt, dass das nicht ganz stimmt.
Nicht nur, weil der menschliche Drang zu sozialem Handeln ebenfalls ein starker Instinkt ist. Sondern auch, weil die Wahrung eines guten Selbstbilds, mit dem man sich identifizieren kann, hin und wieder den Urinstinkt des Futterneids überstrahlen kann.
Ob all der sich endlich auch hierzulande verspätet regende Altruismus gegenüber Notleidenden (deren Elend Großbritannien mit seiner Kriegspolitik des letzten Jahrdutzends schließlich aktiv mitbefördert hat) zu einem gewissen Teil narzisstisch motiviert sein mag, und sei es nur der absurde nationale Narzissmus Britanniens als Kraft des Guten auf der Welt (vgl. auch mit dem deutschen Drang, nach Griechenland wieder einmal nicht als die Bösen dazustehen), es wäre den Flüchtlingen sehr zurecht völlig egal.
Die britische Öffentlichkeit jedenfalls scheint sich dieser Tag zu drehen, und sie neigt dabei erfahrungsgemäß durchaus zur Entwicklung unvorhergesehener Dynamik. Wer weiß, am Ende trägt vielleicht auch diese verbohrte, sture Insel da draußen im Westen Europas endlich ihren Teil zur Linderung dieser Katastrophe bei.