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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

19. 8. 2015 - 11:43

"Berlin ist das Mekka der Zettelwirtschaft"

Joab Nist erklärt das Geheimnis seines Blogs "Notes Of Berlin", der öffentliche Mitteilungen sammelt und so erfolgreich ist, dass aus ihnen gerade ein Episodenfilm gedreht wird.

Der Blog "Notes Of Berlin" ist eine Hommage an die kreativen, skurrilen und manchmal passiv-aggressiven Notizen, Verlustmeldungen und Aufrufe, die man in Berlin an Laternenmasten, an Türen oder in Hauseingängen findet.

Zettel im Hausgang

Notes of Berlin/MARIE

Den Blog gibt es seit 2010 - er hat mittlerweile über 7000 Einträge und rangiert unter den Top-20-Blogs von Deutschland. Er ist als Gemeinschaftsprojekt angelegt, lebt davon, dass Menschen in der ganzen Stadt solche Notizen entdecken und einsenden.

Coole Dänische Buchstaben werden an einer Lampe verschenkt

Notes of Berlin/Lennart

So bekommt man dann in Kategorien von "Lost" über "Hausflur" bis "To Go" einen Eindruck der alltäglichen Konflikte oder Sorgen, die sich im Berliner Alltag abspielen. Aber auch überregional ist der Blog von Bedeutung, sind es doch Themen, die sich in allen größeren Städten finden. Mittlerweile hat Joab Nist auch schon zwei Bücher aus dem Blog gemacht.

Der Film zum Blog

Jetzt wird gerade an einem Film zu Notes Of Berlin gedreht. Auch der Film wurde mit der Community des Blogs gemeinsam erdacht. Die LeserInnen konnten Vorschläge einschicken, welche Notizen sich als Basis für den Film eignen. Aus denen wurden ein paar ausgewählt, um aus ihnen fiktive Charaktere zu entwickeln. So entstehen mehrere Episoden im Film, die Berliner Alltag einfangen sollen.

Auch sonst ist der Film ein Gemeinschaftsprojekt: Finanziert über Crowdfunding - InvestorInnen für die letzten 40.000 Euro werden noch gesucht. Und es gibt den Aufruf der Crew Vorschläge für Motive oder Orte zu schicken - zum Beispiel werden ein Hinterhof oder ein Kinderspielplatz von einem Fast Food Restaurant gebraucht. Im Oktober ist der zweite und letzte Drehblock.

Joab Nist im Interview

Joab Nist

Leon Kopplow

Joab Nist

Irmi Wutscher: Notes Of Berlin gibt’s mittlerweile seit 5 Jahren - warum hast du den Blog gestartet?

Joab Nist: Weil die Zettel sehr gut die Tonalität der Menschen hier einfangen. Die Themen, die sich auf den Zetteln finden, geben einen tiefen Einblick in das Gemütsbild der Bewohner von Berlin: Was sie beschäftigt, was sie suchen, was sie verloren haben, was sie nervt, was sie sich wünschen, was sie hoffen, was sie anstrengend finden. Es ist quasi pure Alltagskultur, von den Menschen selbst geschrieben.

Gab’s einen Anlass, einen Zettel, den du so lustig gefunden hast, dass du gedacht hast das muss ins Internet?

Das kam nicht von heute auf morgen. Ich bin vor 11 Jahren von München nach Berlin gezogen und bin mit meiner Kamera durch die Stadt gewandert, auf der Suche nach Motiven, die ich so vielleicht noch nicht aus München kannte. Ich hab dann irgendwann solche Zettel entdeckt. Da waren schon Zettel dabei, bei denen ich mir gedacht habe: Wahnsinn! Sehr persönlich, sehr kreativ, aber auch sehr abwegig oder skurril. Ich hab mich dann gezielt auf die Jagd gemacht nach diesen Zetteln, weil sie für mich ein persönlicher Reiseführer durch die Kieze waren und bis heute eigentlich noch sind.

Kannst du in den Notizen Trends ausmachen, ändert sich da was? Merkt man zum Beispiel, wer gerade verhasste Gruppen sind?

Was eine Zeit lang sehr präsent war, waren die Zettel die den Hass auf Zugezogene thematisiert haben, besonders auf Schwaben. Die habe ich eine Zeit lang auch gepostet, weil ich das Gefühl hatte, sie gehören grad zum Stimmungsbild dazu. Das hat aber irgendwann so Überhand genommen, dass ich nicht mehr alle Zettel, die dazu eingesandt wurden, gepostet habe. Zum Glück hat das auch wieder ein bisschen abgenommen. Jetzt, seit etwa zwei Jahren, ist die Gentrifikation in Berlin ein großes Thema: gestiegene Mietpreise, Verdrängung aus den Kiezen, das kommt immer wieder auf den Zetteln vor. Ansonsten ist im Themenspektrum alles dabei. Man kann sagen, dass in bestimmten Vierteln bestimmte Themen vermehrt vorkommen. Vom Prenzlauer Berg werden mehr Zettel eingesendet, die verlorene Plüschtiere thematisieren, wohingegen Friedrichshain im Vergleich etwas politischer ist, ein bisschen mehr links gerichtet mit den Botschaften; Neukölln würd ich sagen ist ein bisschen ein Clash von Kulturen, da sind auch viele Zettel auf Englisch verfasst, man merkt hier den Konflikt Zugezogene gegen Alteingesessene, und was das auch mit sich bringt als Konsequenz. In einem Haus z.B. wohnen dann ganz unterschiedliche Menschen. Die einen wollen feiern, die anderen arbeiten, die anderen vögeln zu laut, die anderen kiffen im Keller… Da ist halt so alles dabei, da merkt man auch die Durchmischung der Gesellschaft hier.

Buchcover  Joab Nist "Heute geschlossen wegen gestern - Die kuriosesten Zettel der Stadt"

Goldmann Verlag

Das (zweite) Buch zum Blog: Joab Nist "Heute geschlossen wegen gestern - Die kuriosesten Zettel der Stadt"

Das heißt, man kann von Bezirk zu Bezirk Charakterisierungen treffen?

Es ist nicht so, dass man sagen kann ‚Dieser Zettel kommt garantiert aus Charlottenburg und der andere garantiert aus Prenzlauer Berg‘. So deutlich ist es dann natürlich nicht. Letztendlich ist es so, dass ich den Blog schon betreibe, um Berlin als Solches zu charakterisieren und nicht einzelne Stadtteile rauszustellen.

Du verlässt dich sehr stark auf die Community, dass die Menschen dir Notizen schicken. Ist da nicht auch eine Gefahr, dass es NachahmerInnen gibt, die deine Idee für sich weiterverwenden?“

Es ist natürlich einfach nur eine Idee. Es gab auch Ableger, wo Leute versucht haben, das in anderen Städten aufzuziehen und zu sammeln, auch teilweise in Kooperation mit mir. Das fand ich natürlich super, dass auch woanders versucht wird, dieses analoge Kommunikationsmedium zu bewahren. Aber man unterschätzt manchmal, wie viel Zettel man braucht, damit dieses Projekt auch lebendig bestehen kann. Es reicht ja nicht aus, einmal die Woche etwas zu posten, sondern man braucht viel Inhalt. Den bekommt man nur mit einer gewissen Reichweite und die habe ich mir über die Jahre erarbeitet. Von da her habe ich keine Angst vor Nachahmern. Im Gegenteil: Ich würde mich eher freuen, wenn jemand anders die Idee aufgreift. Man muss halt auch klar sagen, dass – zumindest in meiner Wahrnehmung – Berlin das Mekka der Zettelwirtschaft ist und es einfach nicht so viele Zettel in München oder Nürnberg oder Dortmund usw. hängen. Das erschwert es natürlich, da so einen Blog aufzuziehen.

Hast du einen Lieblingszettel, eine Lieblingsnotiz?

Zumindest einen finde ich sehr außergewöhnlich: Es gibt ja viele Botschaften zum Thema Fahrraddiebstahl, wo die Menschen dann gerne dem Dieb das Schlimmste wünschen, was man sich denken kann. Es gab aber einen Zettel, wo jemand die Nachricht auf ein Fahrrad geklebt hat: ‚Ich würde gerne dein Fahrrad klauen, aber kaufen ist fairer - Bitte melde dich!‘ Das ist schon sehr ungewöhnlich, vor allem für Berlin, dass man fragt.