Erstellt am: 18. 8. 2015 - 16:52 Uhr
Dramatische Evakuierung des CCC-Hackercamps
Auf dem Camp des Chaos Computer Clubs, das am Montag abend in einer alten Ziegelfabrik nördlich von Berlin zu Ende ging, war aus dem spielerischen Umgang mit Sicherheitstechnologien urplötzlich Ernst geworden. In der Nacht davor musste nämlich die gesamte Zeltstadt mit mehr als 4.500 Bewohnern binnen kürzester Zeit evakuiert werden, weil ein schweres Gewitter direkt über dem Gelände stand.
Während eines Wolkenbruchs rannten überall Menschen in Gruppen quer über das Gelände zu den Sammelorten in leerstehenden Gebäuden der alten Ziegelwerke in Mildenberg. Und plötzlich wurde ein zu bloßen Demonstrationszwecken aufgebautes Kommunikationsnetz aus Uralttechnik, nämlich analoge Feldtelefone, wie sie von Militär und Zivilschutz seit dem Ersten Weltkrieg verwendet werden, auch tatsächlich gebraucht.
CC BY-SA 2.0 Robert Anders/Wikipedia
Eine Frage von Minuten
Binnen Minuten waren von der lokalen Glasfaser bis zum Funknetz aus tausenden Schnurlostelefonen oder Handys alle digitalen Kommunikationstechniken samt der Stromversorgung ausgefallen. Alleine das Netz aus militärischen Feldtelefonen, für das viertausend Meter Leitung auf dem Camp verlegt worden waren, zeigte sich vom Inferno völlig unbeeindruckt. Daneben funktionierten nur noch die Funkgeräte der CCC-Sicherheitstruppe sowie das UKW-Netz der Funkamateure, darüber wurde der Nachrichtenverkehr während der Evakuierung auch abgewickelt.
CC BY-SA 2.0 FM4/Erich M.
Ѕchon am Samstag hatte es eine Vorwarnung in Form einer großen Gewitterfront gegeben, die aber südlich des Camps vorbeigezogen war und außer einem Regenschauer nichts anrichtete. Die Front am Sonntag kam hingegen direkt auf das Camp zu und drehte sich in Folge darüber. Das Gros der Campteilnehmer war ѕich der tatsächlichen Gefahrenlage solange nicht bewusst, bis sie von Lautsprecherwagen, die durch Zeltstraßen fuhren, nachdrücklich zum sofortigen Verlassen ihrer Zelte aufgefordert wurden. Helfer der Sicherheitstruppe rannten mit Scheinwerfern durch den strömenden Regen von Zelt zu Zelt, manche Bewohner wurden sogar an den Beinen herausgezerrt. Binnen Minuten waren die Zeltstraßen des Camps überflutet.
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Gefährliche Physik
Die Lage war nämlich noch weit gefährlicher, als es den Eindruck machte, denn das Campgelände war geradezu dafür prädestiniert, Blitzschläge anzuziehen. Durch die tagelange Hitze war der berüchtigte Sandboden der Mark Brandenburg so ausgetrocknet, dass alle zum Blitzschutz getroffenen Maßnahmen konterkariert wurden. Der Boden hatte schlicht keine Leitfähigkeit mehr, sodass Blitzableiter eher wie Antennen wirkten.
Die Camps 2007 und 2011 fanden auf der ehemaligen sowjetische Militärbasis Finowfurt statt. Das Gelände um das nunmehrige Luftfahrtmuseum samt eigenen kleinen Flughafen erwies sich für eine weitere Expansion des Camps auf Dauer zu klein.
Obendrein liegt das Gelände der ehemaligen Großziegelei Mildenberg direkt an einer Schleuse der Havel und ist von einer mehrere Hektar großen Wasserfläche umgeben - künstliche Seen, die von einem Jahrhundert Lehmabbau für die Ziegelproduktion übrig geblieben waren. Bis zu zehn Meter hohe Veranstaltungszelte, die durch Hitze und Trockenheit nicht mehr geerdet waren und eine Unzahl von ebenso hohen Antennenmasten sowie Kaminschlote der Ziegelei erhöhten die Gefahr eines möglichen Blitzschlags noch.
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Die Evakuierung
Ein mehrstöckiges Gebäude des Ziegelwerks diente als Sammelplatz für den Norden des Camps, dessen Etagen sich schnell mit mehreren hundert Menschen füllten. Darunter waren bis auf die Haut durchnässte Familien mit Kindern der verschiedensten Altersstufen, von brüllenden Kleinkindern bis zu Teenagern, denen die Angst in den Augen stand. Dass in dieser Masse zusamnmengedrängter, dampfender Menschen dennoch nie so etwas Panikstimmung aufkam, während die Blitze des überstehenden Gewitters krachend herunterfuhren, ist der Umsicht einiger langgedienter Hacker zu verdanken.
Unterteilt war das Camp in einzelne Villages, die meisten waren davon inhaltlich definiert. Norwegen, Schottland, Dänemark aber auch Bayern und andere Staaten hatten eigene Botschaften für intergalaktische Beziehungen eingerichtet.
Weil die Sicherheitstruppe des CCC mit den Vorgängen im Freien mehr als ausgelastet war und immer mehr Menschen in das Gebäude drängten, übernahm eine kleine, spontan gebildete Gruppe die interne Koordination. MacLemon und Leyrer, zwei bekannte Figuren der Wiener Hackerszene hielten die Eingänge und die Treppe frei, die Schutzsuchenden wurden auf drei Stockwerken verteilt, andere wiederum sorgten für eine schnelle Durchlüftung der Etagen, was ebenso wichtig war. Die Temperaturen im Gebäude lagen nämlich noch weit über dreißig Grad, zusammen mit der extrem hohen Luftfeuchtigkeit stieg die Gefahr von Kreislaufproblemen unter den hunderten Schutzsuchenden. Viele davon waren zudem durch die extreme Hitze, die tagsüber geherrscht hatte, mehr oder weniger dehydriert.
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Glück gehabt
Nach etwas mehr als einer halben Stunde war der Spuk zum Glück vorbei, die Evakuierung wurde aufgehoben, in kleinen Gruppen zogen die Menschen wieder hinaus in die Nacht. Іm Leiwandville genannten Hauptqartier des Wiener Metalabs wurde jene Feldtelefonanlage, an der noch wenige Stunden davor einer der Kurse in Katastrophenschutz abgehalten worden war, zur Kontaktaufnahme mit den anderen Stationen genutzt, von denen mehr als ein Dutzend über das Camp verteilt war.
Binnen Minuten wurde klar, dass außer Zelten, die teilweise unter Wasser standen, keine nennenswerten Schäden entstanden waren. Die tausenden Bewohner des Camps hatten auch schlichtweg Glück gehabt, weil es bei diesem Gewitter keine Sturmböen gab und die Blitze es vorgezogen hatten, im Umland oder im Wasser einzuschlagen. Während das Gewitter über dem Camp stand, spielten sich die meisten Blitzschläge hoch oben in den Wolken ab.
Die Wiederkehr der Netze
Das Gemeinschaftszelt der Hacker von Leiwandville war wenige Minuten nach der Rückkehr seiner ersten Bewohner bereits durch zwei Stromaggregate beleuchtet, man war in Feierstimmung und scherzte mit den Operators der anderen Feldtelefone auf dem Camp. Nach Auskünften aus dem Network Operating Center wurden alleine dafür vier Kilometer Kupferkabel auf dem Camp verlegt. Wenig später kamen die Netze nacheinander wieder hoch.
Kurz nach dem WLAN funktionierte auch das Glasfaser-Backbone wieder, und bald war auch der Strom zurück. Der musste für dieses Camp ebenso "mitgebracht" werden wie fast die gesamte übrige Infrastruktur vor Ort. Für Strom sorgten mächtige Dieselgeneratoren, die in Paaren über das Camp verteilt waren: Etwa acht Kilometer Glasfaserkabel wurden für das lokale 40-Gigabit-Backbone verlegt, die Anbindung des Camps an das Internet besorgte ein drei Kilometer langer Glasfaserlink über freiem Feld.
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Das Telefonsystem des Camps
Die Besitzer der rund 2.700 registrierten Schnurlostelefone (DECT), die allesamt eigene, vierstellige Durchwahlnummern hatten, konnten schon bald wieder telefonieren. Das funktionierte sowohl lokal, die Teilnehmer konnten untereinander telefonierten, aber auch die Feldtelefonanlagen erreichen, wie nach außen in Fest- oder Mobilfunknetze verbunden werden. Eingehende Anrufe aus Fest- oder Mobilfunknetzen kamen über eine Hamburger Festnetznummer als VoIP-Telefonate über die Glasfasert im "Phone Operating Center" (POC) an. In einem simplen Rack, das aber hundert Jahre Kommunikationsgeschichte in sich vereinte, wurde das eingehende Telefonat auf analoge Feldtelfone, DECT-Funktelefone und auch Handys weitergeleitet, zumal das Camp auch über ein eigenes GSM-Netz mit acht Basistationen samt eigenen SIM-Cards verfügte.
Worst Case wehe Zehen
Dass Stromversorgung und die gesamte Kommunikationsinfrastuktur des Camps in so kurzer Zeit wiederhergestellt werden konnten, lag daran, dass sie eben nicht ausfielen, sondern rechtzeitig nacheinander heruntergefahren worden waren. Auch sonst funktionierten die Notmaßnahmen wie aus dem Lehrbuch, die Freiwilligentruppe der "Chaosengel" - darunter einige Frauen- hatte die Abläufe die ganze Zeit über im Griff. Zu keinem Zeitpunkt wurde dabei Hilfe von außen benötigt, zumal eine auch eigene mit Ärzten und Sanitätern besetzte Erste-Hilfe-Station zur Verfügung stand.
Die weitaus häufigsten Verletzungen waren Schnittwunden an Füßen und den Zehen, weil einige Campteilnehmer in der Dunkelheit über Zeltheringe gestolpert waren. Diese Unfälle resultierten aus der einzigen, wirklichen Schwachstelle des Camps, verantwortlich dafür waren jedoch nicht die Organisatoren, sondern die Teilnehmer selbst. Wie der Verlauf der Evakuierung zeigte, hatten die Leute viel zuwenige Taschenlampen mit.