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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

13. 8. 2015 - 22:30

Der Mann mit dem zerknitterten Gesicht

Ein Kandidat der Labour Party, der Enthusiasmus inspiriert - und seine Partei tut alles, um ihn zu verhindern. Das Phänomen Jeremy Corbyn.

Man könnte es gut verstehen, falls Leute außerhalb Großbritanniens nicht viel mehr als mildes Interesse für den parteiinternen Kampf um den Vorsitz der britischen Labour Party aufbringen.

Die derzeitige Selbstzerstörung der Sozialdemokratie ist als Schauspiel ohnehin schon nicht besonders sexy mitanzusehen, und ihre von der Labour Party seit dem Verlust der Unterhauswahlen vorgeführte Variante förderte nach dem Abgang Ed Milibands auch nur wenig Spektakuläres zutage.

Lange hatte es so ausgesehen, als würden sich die unter Ed Miliband gedemütigten Blairist_innen die Partei zurückholen und somit das Vereinte Königreich von seinem im Wahlkampf überraschend eingeschlagenen kurzen Exkurs in Richtung bescheidener Ansätze einer politischen Grundsatzdebatte wieder auf einen „zentristischen“ Kurs bringen.

Mittlerweile dagegen sind wir soweit, dass Tony Blair seine heutige Gastkolumne im Guardian zum Thema mit diesem Satz beginnt:

„Die Labour Party ist heute in tödlicherer Gefahr als an irgendeinem anderem Punkt in mehr als hundert Jahren ihres Bestehens.“

Und weiter im Text: „Die Partei geht mit verbundenen Augen und ausgestreckten Armen über den Klippenrand, den schroffen Felsen da unten entgegen.“

Er schreibt das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da sich die Zahl der Mitglieder und eingeschriebenen Unterstützer_innen dieser scheinbar todgeweihten Partei, die zur Wahl der/des neuen Vorsitzenden registriert sind, gerade von rund 200.000 auf rund 600.000 verdreifacht hat.

Da ist also was Spannendes im Gange, und es hat auch durchaus seine transkontinentalen Parallelen zu Amerika, wo Bernie Sanders bei den Demokraten in New Hampshire gerade zum ersten Mal vor Hilary Clinton in Führung liegt.

Auch in der britischen Labour Party ereignet sich nämlich gerade etwas Unvorhergesehenes, dessen Name sich mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum herumgesprochen haben mag: Jeremy Corbyn.

Der 66-jährige Altparlamentarier mit dem griesgrämigen Dauerstirnrunzeln und dem weißen Vollbart ließ sich vom linken Flügel überreden, der blairistischen Dampfwalze in der Führungsdebatte ein bisschen symbolische Gegenwehr entgegenzusetzen (im Unterschied zu jüngeren Kandidat_innen für diese Rolle hatte er ohnehin keine Karriereaussichten mehr zu opfern).

Bis dahin hatten Reuebekundungen für die angeblich „Business-unfreundliche“ Politik Ed Milibands den Ton bestimmt. Labour müsse sich wieder mit den „wealth creators“ vertragen, darin waren sich vor allem die jüngere Liz Kendall und die erprobtere Yvette Cooper einig. Der ehemalige Gesundheitsminister Andy Burnham bekannte sich immerhin dazu, das Gesundheitssystem vor der voranschreitenden Privatisierung zu bewahren, aber außer ein bisschen defensivem Verfechten von vor Jahrzehnten Erkämpften hatte er auch nicht viel Initiative zu bieten.

Gegen so viel Farblosigkeit und technokratische Leersprache musste sich Jeremy Corbyns Programm wohl abheben. Den entscheidenden Anlass, sich von seinen Konkurrent_innen abzusetzen, bot allerdings eine Unterhaus-Abstimmung über von der konservativen Regierung vorgebrachte Kürzungen von Sozialleistungen, darunter die Idee, den Child Tax Credit, eine an die Zahl der Kinder und das Einkommen derer Eltern gebundene Unterstützung, nur mehr für maximal zwei Kinder auszuzahlen.

Harriet Harman, die Interimschefin der Labour Party, hatte ihrer Fraktion empfohlen, nicht gegen diese Reformen zu stimmen. Sie begründete das anekdotisch damit, dass sie im Unterhauswahlkampf bei ihren Rundfahrten in Labours (spezifisch zum Dialog mit weiblichen Wählerinnen eingesetzten) Pink Bus von vielen Frauen gehört habe, sie sähen nicht ein, warum Leute, die es sich nicht leisten könnten, mehr Kinder hätten als sie selbst.

Harmans Anbiederung an die von der konservativen Regierung zur Popularisierung ihres Austeritätsprogramms eingesetzte Politik des Neids sorgte für viel Protest in ihrer Partei, auch unter den Kandidat_innen für die Parteiführung. Aber nur Jeremy Corbyn zeigte das Rückgrat, im Unterhaus dagegen zu stimmen.

Nach und nach begann sein Programm die Runde zu machen: Ein Ende der Austeritätspolitik, die Rückverstaatlichung der Eisenbahnen, ein Plan, über die Bank of England Geld für öffentliche Investitionen in die Wirtschaft zu pumpen, faire Bezahlung für Lehrlinge, Abschaffung der Studiengebühren, keine Erneuerung der britischen Nuklearwaffen…

All das sind populäre Agenden unter Partei-Aktivist_innen, die aber niemand in der Führungsschicht vertreten würde.

Corbyn habe nur „alte Lösungen für alte Probleme“ anzubieten, meinte Yvette Cooper heute. Doch bloß weil Probleme wie etwa die Armut in Britanniens ehemaligen Industriezentren ein alter Hut sind, sind sie noch lange nicht gelöst.

Im Gegensatz zur sogenannten Modernisiererin Cooper spricht der Mann mit dem zerknitterten Gesicht im schlabbrig von seinen dürren Schultern herabhängenden Hemd überall, wo er hinkommt, in prall gefüllten Hallen.

Jeremy Corbyn bei einer Anti-Austeritäts-Demo

Jeremy Corbyn

Seine plötzliche Popularität macht dem Partei-Establishment so große Angst, dass nicht nur Blair, sondern auch sein ehemaliger Pressemann fürs Grobe Alastair Campbell und der ehemalige Außenminister Jack Straw – wohl unfreiwillig kontraproduktiv – apokalyptische Schreckensvisionen eines Jeremy Corbyn als Parteichef an die Wand malen.

Bis zuletzt (die Anmeldefrist lief gestern mittag aus) verlangten seine Widersacher in der Parlamentsfraktion aus Misstrauen gegenüber dem schlagartigen Zuwachs an Registrierungen erfolglos nach einer Verschiebung der Wahlen zum neuen Parteichef.

Vor Wochen schon hatte der konservative Daily Telegraph seine Leser_innenschaft nämlich dazu aufgerufen, sich als Labour-Unterstützer_innen zu registrieren und taktisch Corbyn zu wählen, um die künftigen Wahlchancen der Labour Party zu sabotieren.

Ein panischer Labour-Apparat arbeitet rund um die Uhr daran, die von Corbyns Auftauchen inspirierten, tausenden Neuzugänge nach solchen mit potenziell unehrlichen Absichten (zum Beispiel Mitgliedern anderer Parteien) zu durchforsten.

Dabei, und das ist nur eine von mehreren Ironien hier, stammt der Großteil wohl viel eher aus genau jenen desillusionierten Schichten, die Labour mit seiner Tory-Light-Politik bisher nicht zu erreichen vermochte.

Genau jene Sorte Leute also, die bei den Unterhauswahlen in Schottland zur SNP überliefen bzw. in England grün wählten oder zu Hause blieben.

Noch eine Ironie ist, dass Ed Miliband jene One-Member-One-Vote-Regel, nach der Jeremy Corbyn nun – laut Umfragen – mit 53% der prognostizierten Stimmen mehr als 20% vor dem derzeitigen Zweitplatzierten Andy Burnham liegt, einst als Reaktion auf den Vorwurf seitens der Medien und der Parteirechten hin einführte, die Gewerkschaften hätten ihn mit ihrem Block-Votum gegen den Willen der Parlamentsfraktion auf den Parteivorsitz gehievt.

Wie sich nun herausstellt, sind die Gewerkschaften offenbar ganz gut imstande, ihre Mitglieder auch ohne institutionelles Privileg für ihre Wahlempfehlung (Corbyn) zu mobilisieren. Dass die Labour-Führung sich das nicht erwartet hatte, spricht eigentlich Bände.

Noch vielsagender sind allerdings die Ankündigungen diverser Mitglieder des Labour-Schattenkabinetts, nicht für einen Parteiobmann Corbyn zu arbeiten bzw. die ungenierten Drohungen eines Labour-Parlamentariers wie Simon Danczuk, er und seinesgleichen werden „von Tag eins“ einer Corbynschen Führung weg an dessen Sessel sägen.

Dass diese offene Missachtung des Willens der Parteibasis um ein Vielfaches destruktiver ist als die vermeintlich linksradikalen Ausritte Corbyns, kommt ihm erst gar nicht in den Sinn.

„Regierungen können ein Land verändern“, schreibt Tony Blair in seiner Kolumne, „Protestbewegungen agitieren einfach gegen die, die regieren.“ Die daraus sprechende Verachtung für demokratische Meinungsäußerungen von Menschen außerhalb der Machtstrukturen ist geradezu schmerzhaft krass.

Nun hege ich selbst ja immer Skepsis gegenüber idealisierten Ein-Mann-Bewegungen und erklärten Helden der einfachen Leute.

Jeremy Corbyn ist nicht Podemos oder Syriza, er kommt aus dem Inneren seiner Partei.

Aber dass er als solches imstande ist, einen derartigen Enthusiasmus zu inspirieren, sollte die noch vor Monaten völlig von der politischen Bildfläche verschwundene Labour Party eigentlich als eine große, vielleicht ihre letzte große Chance verstehen.

Und der Rest der europäischen Sozialdemokratie täte auch nicht schlecht daran, sich das einmal anzusehen.