Erstellt am: 13. 8. 2015 - 18:03 Uhr
I need a Doctor
Ein alter Mann erzählt von der guten, der wilden Zeit. Früher, so kann man auf Dr. Dres drittem Album "Compton" hören, war es wichtig für einen Rapper eine Knarre zu haben - nicht einen Styleberater. Bei aller Gangsta-Nostalgie ist "Compton" nicht bitter oder müde oder längst schon von der Gegenwart entkoppelt.
Universal Music
Dr. Dre sprüht auf dem Album vor Energie und Elektrizität, beweisen muss der kalifornische Produzent und Nebenbei-MC niemandem etwas, neben seiner Arbeit mit seiner Crew N.W.A. in den späten 80ern und seinem ebenso wegweisenden G-Funk-Meisterwerk "The Chronic" aus dem Jahr 1992 hat Dr. Dre die Karrieren von Snoop Dogg, Eminem, The Game, Kendrick Lamar und vielen mehr maßgeblich mitbefördert und die Geschichte des Rap geprägt wie kein anderer. Dr. Dre scheint aber noch zu wollen.
Er selbst bezeichnet "Compton" als sein "Grand Finale", Klappe zu, die Platte zittert und vibriert vor Leben, an jeder Ecke gehen Explosionen hoch, zum Klassiker wird es für dieses sehr gute Album dann aber doch nicht ganz reichen.
Dr. Dre
"Compton" ist Dres erstes "Solo"-Album seit 16 Jahren, fast ebenso lang lag das handfeste Gerücht in der Luft, der Nachfolger zur zweiten Platte - "2001" aus dem Jahr 1999 - würde ein Album namens "Detox" werden: Ein mythenumranktes Werk vom zweifelhaften Rufe von Guns n' Roses' "Chinese Democracy", eine Platte, die nicht und nicht werden wollte, eine mühsame, ewige Arbeit ohne Früchte.
Von den Dreharbeiten zum demnächst erscheinenden N.W.A.-Biopic "Straight Outta Compton" soll sich Dre nun so inspiriert und vom jungen Hafer gestochen gefühlt haben, dass er das Material zu "Detox" endgültig in die Tonne geklopft haben dürfte und vom Ballast befreit frisch geladen eine komplett neue Platte zusammengedoktert hat. "A Soundtrack by Dr. Dre" lautet der Untertitel von "Compton" - das Album ist dabei nicht der tatsächliche Soundtrack zum Film, vielmehr zum Leben und der Aura des Dr. Dre.
Ein Album von Dr. Dre ist freilich nie ein Solo-Album. Dre ist nicht bloß visionärer Produzent, sondern vor allem auch Strippenzieher und Kurator. Er führt die Talente zusammen, instrumentiert die richtigen Figuren an der richtigen Stelle, hat kein Problem damit, zu delegieren, hat die Fäden in der Hand. Hinsichtlich des genialischen Dirigierens von Kollaborateuren scheint es Dres Mission zu sein to out-kanye Kanye.
Und so haben auf "Compton" gut zwei Handvoll Co- und Mit-Produzenten und Musiker mitgeholfen. Vor allen Dingen der namentlich wenig bekannte, dabei nicht bloß hier als unsichtbare Hand einflussreich agierende Allrounder Focus...., auch ein solch großes Kaliber wie DJ Premier, der das Highlight "Animals" grundlegend gestaltet hat. Ein Song, der Rassismus, Unruhen, Polizeigewalt umkreist.
Der Weg aus dem Ghetto zum Reichtum, der Struggle mit dem Fame, Ch-ch-ch-Changes sind die – jetzt sicher nicht brandneuen – zentralen Themen der Platte. Herkunft, Zukunft, Selbstbespiegelungen des Gangstas, Vorher/Nachher-Bilder über den Status von Rap. Alle jedoch, alle, reichen hier einander das Mikrofon und haben Interessantes oder immerhin Artistisches zu sagen. Newcomer wie Justus und King Mez, oder: Eminem, Snoop, The Game, Xzibit, allesamt mit soviel Juckpulver im Herzen wie schon lange nicht mehr.
Wenig überraschend gehören die Stücke mit Kendrick Lamar – ganze drei Songs – zu den Höhepunkten auf "Compton". Man höre Lamars Hasten, Stolpern und Ertrinken in den eigenen Silben in "Genocide" und "Deep Water". Von der englischen Sängerin Marsha Ambrosius und der großen Jill Scott kommen zwischen all dem ekstatischen Rush und Rausch R'n'B- und Soul-Läuterung.
Vieles geschieht auf "Compton", es wuselt und zuckt. Eiernde Synthies aus einem modernen Update der klassischen G-Funk, Robo-Electro-Funk, speziell trockene Snares. Hall und Echo, ostentativ verpitchte Stimmen, Gitarren, mal elektrisch, mal Flamenco, Space-Transmissions aus George Clintons Raumschiff. Dann wieder betont erdig tönender, wie von echter Barband mit Hand gespielter Soul, inklusive schön schiefer Jazztrompete.
Die Stücke mäandern und wirren, brechen ab. Das alles hat Punch und Kick, Dre sucht jedoch in musikalischer Hinsicht die offensichtliche Pointe nicht, als Mega-Hits konstruierte Hits bieten sich hier nicht offensiv an. Das alles ist ein erratisches Durcheinander, a wonderful mess, die breitwandige Cinemascope-Vision des Dr. Dre hält die Angelegenheit zusammen. In keiner Sekunde klingt das alles nach dem Versuch, aktuellen Rap- und HipHop-Produktionen zu spät hinterherzulaufen. Dre ist sein eigener Planet.
Dass Dr. Dre selbst es in diesem Leben nicht mehr in eine Liste der 20 weltbesten MCs schaffen wird und sich auch hinsichtlich seiner Texte weitgehend auf Ghostwriter verlässt, ist kein Geheimnis. Seine Rap-Beiträge auf "Compton" aber – Dres Stimme ist mit Ausnahme von zwei Stücken auf allen Tracks zu hören – sind ungewohnt agil und elastisch, die gelegentliche Unbeholfenheit und Grobschlächtigkeit im Flow wird durch das strahlende Selbstbewusstsein und zwei Zwinkern im Auge meistens halb gut gemacht.
Im letzten Stück der Platte greift Dre noch einmal schön in den Schmalztopf: "Talking to my Diary" nennt sich der Song schon bestens retromelancholisch, Dre sinniert und erinnert: "I remember when I got started, my intention was to win, but a lot of shit changed since then, some more friends became enemies in the quest of victory". Ein Alterswerk, in dem es noch brodelt und manchmal schwermütig ächzt. Ein Abriss, ein meistens geglückter Versuch eines Archivs, das noch nicht ganz geschlossen ist. Never forget where you coming from, einmal noch das frühe Feuer fühlen, trotzdem weiter schauen.