Erstellt am: 10. 8. 2015 - 16:28 Uhr
The daily Blumenau. Monday Edition, 10-08-15.
#demokratiepolitik #asylpolitik
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
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Am Freitag hat der Chefredakteur des Netz-Projekts nzz.at unter dem Titel "Der unanständige Aufstand der Anständigen" einen durchaus ungewöhnlichen Text veröffentlicht. Er hat nämlich auf den (bei ihm sonst leider serienmäßig eingebauten) ideologiebeladenen Draufhau-Gestus verzichtet und in schon fast demütig zu nennender Analyse vor (ebenfalls serienmäßig eingebauter, in einigen von uns stark, in allen von uns zumindest ein wenig) Selbstgefälligkeit gewarnt.
Anlass war der Anja-Reschke-Kommentar in der ARD, der im Zusammenhang mit den Facebook-hatestorms schlüssig argumentierend eine Reaktion der Gesellschaft, einen Aufstand der Anständigen forderte.
@martinblumenau 7. Aug.
@mfleischhacker1 übertreibt gern stilmitteltechnisch. hier hält er sich angenehm zurück und trifft den punkt eher: nzz.at
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@mfleischhacker1 7. Aug.
@martinblumenau Danke für die Blumenau.
Nachdem Michael Fleischhacker uneingeschränkt zustimmt und die zuständige, eben nicht Rahmenbedingungen bereitstellende Politik in die Pflicht nimmt, äußert er Bedenken, was die Gnadenlosigkeit der Reaktionen angeht. Denn die jüngste (zumindest die bekanntgewordene) Praxis war schon recht rigide.
Rassistischer Verbal-Durchfall, der zum Arbeitsplatzverlust führt - das hört sich zwar gut an, trägt aber auch einen gefährlichen Keim in sich. Fleischhacker nennt das so: "Wer sich auf der Seite der Anständigen weiß, kommt in die Versuchung zu glauben, dass er kraft seiner moralischen Überlegenheit Dinge tun darf, die man in anderen Kontexten moralisch verurteilen würde." Zum Beispiel Denunziation.
Das kann man auch anders sehen. Etwa, dass sowohl hatecrime als auch jene, die die Verursacher ausforschen samt den daraus folgernden Konsequenzen sich eben auch in Abwägung betrachten ließen.
Womit der NZZ.at-Zampano aber recht hat: darüber, zum Thema "moralische Selbstüberhöhung", existiert im aktuellen Diskurs keinerlei Ideengeschichte. Die Tinte ist auf beiden Seiten noch feucht, und das zählt bei den literaten der beiden natürlich doppelt.
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Das hat mich an ein vergessen geglaubtes, weirdes nächtliches Gespräch erinnert, das ich unlängst mit einem Bekannten (ich will ihn zur kompletten Anonymisierung Patti nennen) geführt habe. Patti erklärte mir in überzeugend-überzeugter Sprache eine Sachlage in einem Gebiet, in dem er (das wusste ich) keine wirkliche Ahnung hat. Auf meine sanft mannstoppende diesbezügliche Zwischenbemerkung meinte Patti dann: "Ja, ich verstehe nichts davon. Aber das ist doch gut: denn so bin ich objektiv."
Dieses Patti-Theorem, wie ich es in der Folge nennen will, ist die exakte Gegenthese zu Dieter Nuhrs wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten. Und ich schätze, dass Patti mittlerweile deutlich mehr Follower als Dieter hat.
Und zwar nicht nur, weil mittlerweile der gesellschaftliche Druck auf den Einzelnen sich doch zu bekennen, am besten öffentlich und noch besser zu allem, ins Unermessliche angewachsen ist. Sondern auch, weil das ahnungslose Absondern von Meinung so gut ankommt; weil sich die vielen Ahnungslosen in ihren platten, oberflächlichen, ungestützten Schein-Thesen treffen. Und weil auch jene, die anderswo vielleicht Ahnung haben, dann in ihren blindfleckigen Gebieten in diese Dynamik reinkippen und so vorgehen. Ich will mich da gar nicht ausnehmen.
Und auch, weil dieser falsch verstandene Demokratie-Ansatz davon ausgeht, dass alles dann umso wahrer ist, je mehr Menschen es bestätigen. Und im Bestätigen von billigen Klischees, in der oberflächlichen Beurteilung und im Vorurteils-Management ist der Mensch, zumal der mitteleuropäische, eh schon Weltmeister.
Patti ist die Bestätigung durch andere übrigens egal, ihm reicht seine eigene Erkenntnis völlig aus; Patti ist ein aggressive leader.
Patti ist im übrigen selbstverständlich auch nicht objektiv, weil das keiner ist. Und der, der am allerwenigsten weiß, ist es deshalb am allerwenigsten, weil er am leichtesten (auch gutgläubig) auf die dreistesten Schmähs reinfallen kann.
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Mich erinnert das Patti-Theorem auch an etwas anderes:
Wenn kleine Kinder die Kommunikation für sich entdecken (und ihr wisst, dass ich da weiß, wovon ich spreche), verfügen sie über eine bemerkenswerte Meinungsstärke; samt angeschlossener Beharrungs-Automatik.
Am nächsten Tag mag der kleine Liebling alles anders sehen - aber im gegenwärtigen Moment kann die eigene Ansicht unverrückbar bis zum Sitzstreik sein. Wenn man den Spuren dessen nachgeht, dann sind es entweder elterliche An-/Aussagen oder vorgelebte Verhaltensweisen, halbverdaute Kernsätze von anderen als Autoritäten akzeptierten Erwachsenen (the people formerly knwon as Kindergartentante) oder Lebenserfahrungen gleichaltriger bzw. ein wenig älterer Kinder.
Im Wesentlichen, und das ist ein hartes, aber nötiges Eingeständnis, ändert sich da bis hin zu Patti, Fleischhacker oder mir dann nix mehr. Wir nehmen unsere Vorfahren, vor allem die Eltern, tiefgehend mit, wir haben uns von den Einflussgebern der engeren Umgebung orientieren lassen und baden in der peer group - die einen mehr, die anderen weniger. Dort wird Haltung grundiert, dort wird Ideologie sortiert, dort wird Meinung gesetzt - und in diversen Variationen dann von uns verbreitet.
3a
Das Problem, sagt diese schlaue Geschichte sind dann eben die, die auf einfach alles eine einfache Antwort haben. Kindgerecht, Patti-Theoremgestützt.
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Bevor ich auf die als dringend notwendig eingeforderte Koalition der Anständigen zurückkommen kann, gilt es den von Fleischhacker ideengeschichtlich als durchaus belastet gekennzeichneten Begriff näher anzuschauen.
In Deutschland, wo es angesichts der Existenz von zahllosen Städten auch so etwas wie ein städtisches Bürgertum gibt, hat der Begriff vielleicht nur ein konservatives Odeur. In Österreich, einem Land ohne echte urbane Strukturen und vor allem ohne echte Citoyen-Kultur, ist er mittlerweile von den Haider/Strache-Parteien inhaliert und zu einem Synonym für den kleinen, "hart arbeitenden" Mann geworden, für die Nachfahren der Herren Karl, Strudl oder Staberl.
Wenn ich "Aufstand der Anständigen" höre, denke ich an einen dystopischen Putsch von Rechtsaußen-Kräften bei Heer und Polizei, der schlussendlich in einer (man ist schließlich in Österreich) ständestaatlichen zivilen Führung mündet, die im besten Fall Singapur werden kann.
Auch ohne die Kenntnis der Nazi-Reden mit ihrem ewig gebrauchten Bild vom "anständigen Deutschen" würde ich niemals auf die Idee kommen mich als "anständig" zu bezeichnen. Zu viele massenmörderische Ideologien und diktatorische Regime sind bereits im Namen des Anstands über die Menschenrechte getrampelt.
Sprechen wir lieber von Haltung-Bewahrern, das klingt progressiv und konservativ gleichzeitig - für den Vorschlag eines noch besseren Begriffs wäre ich aber dankbar.
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Faktencheck im Falter, Handy-Recherche im Standard, die Macht falscher Sprachbilder auf orf.at, Reality Check im Kurier ...
Das, was den Haltungs-Bewahrern (vor allem in den Medien, die unter zunehmendem Druck eines trollenden Mobs stehen, der sich Mehrheitsfähigkeit anmaßt) zugestanden wird, ist Information, Aufklärung, Fakten- und Realitäts-Check. Das funktioniert (siehe nebenstehende Beispiele) auch recht gut.
Bloß: die Pattis, jene, die davon ausgehen, dass sie recht haben müssen, genau weil sie nix wissen, und dass das gut so ist, wird das nicht erreichen.
Genau da greift die Gefahr des Gefühls der moralischen Überlegenheit: wenn ich weiß, dass mein Kind trotz seines gutgläubigen Bestemms nicht recht hat; wenn ich weiß, dass Patti nicht nur nicht objektiv sein kann, sondern sich mit der bewusst gesetzten Ahnungslosigkeit am weitestmöglichen von jeder Realität entfernt ist.
Früher hätten da Watschen bzw Verbal-Tachteln geholfen. Heute greift Überzeugungsarbeit. Aber nur bedingt. Bei den Kleinen, die's eben wirklich nicht wissen können. Bei den Pattis, jenen, die sich ganz gezielt und ganz bewusst - und es sind nicht mehr nur einige - aus dem Realitäts-Diskurs verabschieden, geht sich das nicht mehr aus.
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Wie also umgehen mit den Flammenwerfer-Aufrufern, mit jenen, die auf unbestreitbare Fakten mit Sätzen wie "Das seh' ich aber nicht so" antworten und in erster Linie eines, nämlich Aggressivität und Angriffslust ausstrahlen.
Das Bilden einer bewusst ebenso aggressiven Gegenöffentlichkeit scheint, wenn ich Fleischhacker richtig verstehe, nicht opportun. Nicht, weil die Gefahr der Eskalation so groß ist, sondern weil den in den Eliten verankerten Anständigen schon das eine oder andere Mal die autoritäre Hand (Stichwort Watschen) ausgekommen ist. Ich kann hier aber nur lesen, was nicht geht, ich kann nicht erkennen, was stattdessen angebracht wäre.
Nun ist Fleischhacker Neoliberalist, also letztlich immer dafür, dass der Markt alles reguliert, ohne Einflussnahme von Staat oder allem, was nach Staatsnähe riecht. Deshalb ein Gedankenexperiment... Gesetzt den Fall, das würde auch für demokratiepolitische Entwicklungen gelten: wenn der Markt in seiner Mehrheit sich einer realitäts- und demokratiefernen Grundhaltung unterwerfen würde, müsste man das dann hinnehmen und damit umgehen lernen. Um bei meinem vorigen Beispiel zu bleiben: danach trachten in diesem potentiellen Singapur meine Agenda zu setzen?
Ich gebe es zu: mir ist die moralisch völlig richtig gesetzte Handbremse in einer Situation, in der nichts außer Handlungsanleitungen angebracht sind, zu wenig.
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Zugegeben: mir hat's bei den ersten Meldungen, dass Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Bewusstseins-Stufen nach ihren widerlichen Aussetzern die Jobs verloren haben, schon ein wenig gegruselt.
Auch, weil es ein schlechtes Zeichen ist, wenn die Kleinen (die die's schlecht artikulieren, unwissentlich gesellschaftliche Konventionen brechen) gefeuert werden und die Großen, die von denen sie's haben, die politischen Brandstifter und juristisch geschulten Hintermänner, ungeschoren davonkommen, weil sie sich opportuner ausdrücken können bzw. durch andere gesellschaftliche Mechanismen geschützt sind.
Das ist das Problem eines elitären Antirassismus, der hier mit deutlich mehr Zug zum Tor beschrieben wird als bei Fleischhacker.
Nun geht's aber um die Konsequenz, die man/wir aus all diesem Wissen um Vor- und Rücksichtnahme ziehen müssen.
Soll eine aufklärerische Öffentlichkeit - die vielleicht angesichts der scheinbaren Mehrheit derer, die sich mit den einfachen Antworten auf komplexe Fragen zufriedengeben und im schlimmsten Fall mit Hass um sich schießen, eh schon eine Gegenöffentlichkeit ist - sich in formal dezenter Zurückhaltung üben, um nicht "die schlechten Eigenschaften der Menschen zu übernehmen, die wir am heftigsten bekämpfen"?
Sollen die Haltungs-Bewahrer wie unbewegte Wachturm-Vertreter agieren, oder ist - emotionalisiertes, und damit immer wieder auch übers Ziel hinausschießendes - Engagement erlaubt?
Und: was ist mit der vielzitierten Augenhöhe? Es wird im postaufklärerischen Zeitalter nicht das Auge-um-Auge der Bibel sein können. Aber um eine gemeinsame Sprach-Basis zu erreichen, wird die nuancenreiche Zurücknahme allein nicht fruchten.
Im Fußball würde man sagen, dass sich das qualitätsvolle Spiel letztlich durchsetzt - auch wenn hin und wieder ein Rehhagel-Griechenland Europameister wird. Im echten Leben würde ich mich darauf nicht verlassen; zumal auch auf der Flamme dieser Krisensituation politstrategische Süppchen von weitreichenden Folgen gekocht werden.