Erstellt am: 9. 8. 2015 - 16:33 Uhr
Anruf aus der Vergangenheit
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Es ist sicher ein wenig keck, einen seiner Songs im Jahr 2015 "Hauntology" zu nennen. Hier kann mit Originalität nicht mehr gepunktet werden, hier wird das Rezeptionsangebot an den Hörer gleich im Titel mitgeliefert.
Im Zusammenhang mit Musik und Ästhetik ist der Begriff "Hauntology" schon seit gut zehn Jahren ein vieldeutiges Buzzword, maßgeblich befördert von den Journalisten Simon Reynolds und Mark Fisher - der dem Komplex in seinem Buch "Ghosts of my Life: Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures" sorgfältig nachgespürt hat.
Ursprünglich stammt der Begriff aus Jacques Derridas "Marx' Gespenster" aus dem Jahr 1993 - der Philosoph umschreibt da die Obsession des Menschen der Gegenwart mit den Echos der Vergangenheit, vor allem in Bezug auf Kommunismus und Marxismus. Den Umstand der Heimsuchung, des mulmig machenden Nachhalls, auch des Phantomschmerzes.
Andreas Spechtl, Sleep
In musikalischer Hinsicht meint diese diffuse Hauntology so allerlei verspukte Nebelmaschinen- und retrogegilbte Depressionsmusik. Die dystopischen Dubstep-Skizzen aus der Nachapokalypse von Burial oder die Library-Music-Archivare und Sechziger-Folkloristen vom britischen Label mit dem sprechenden Namen Ghost Box, inklusive Vintage- und 8mm-Feel.
Authentisch angestaubt knisternde Sampledelia, an italienischen Gruselsoundtracks aus den späten Siebzigern angelehnte Techno-Produktionen, Witch House. Die Hauntology liegt stets in der Luft und lässt sich freilich immer auch bestens als Musik zur Zeit und als Soundtrack "zur Krise" lesen. Ein Unwohlsein geht um.
Und was macht Andreas Spechtl von der Band Ja, Panik nun auf dem sehr guten Debüt-Album seines Solo-Projekts Sleep? Er gibt einem Stück den Titel "Hauntology". Weiß er etwas mehr? Ein Kokettieren mit Hype-Begriffen aus dem Vorgestern wird schnell alt. Das ist hier schon eingeschrieben.
Der Song "Hauntology" ist im Moment nicht im Netz vorhanden, man soll sich aber ohnehin das ganze Album anhören.
Die Musik von Sleep ist schemenhaft, ein warmes Flirren in der Luft. Meist kein Lied, kein Song, kein Track. Ein Wabern und Eiern, Field Recordings, folkloristische Partikel aus aller Welt, Bläser, verbeult und verbogen, zärtliches Gelatin und vor allem: Dub - eine Musik, die von Echo und Hall lebt und oft die Spiritualität beschwört.
Dub-Großmeister Lee "Scratch" Perry bedenkt sich selbst gerne mit dem Spitznamen "Ghost Captain". Mit seinen Aufnahmen macht er unsichtbare Energien im Raum hörbar, Tonaufnahmen sind Container für Geräusche von Menschen, die nicht mehr da sein werden.
Das Wort "Hauntology" kommt im Song "Hauntology" von Sleep nicht vor. Ein Gefühl, das nicht benannt werden soll. Andreas Spechtl wiederholt in dem Lied eine einzige Zeile wieder und wieder und spielt auch vage auf den politischen Originalzusammenhang des Wortes an: "Each man's troubles are just an echo" - und fügt später hinzu: "of another man's trouble". Ein ewiger Kreis, ein schönes Unbehagen. Die Hauntology ist zum Nachhall ihrer selbst geworden.