Erstellt am: 9. 8. 2015 - 09:33 Uhr
Glitzerpartikel im Hitlerbärtchen
Tinder-Dates, eine Kindheit in Ostberlin und den Sommer 2014 in Tel Aviv muss erst einmal jemand in einen Roman packen, ohne dass die Geschichte in Oberflächlichkeiten endet. Die deutsche Journalistin Mirna Funk kann das. Vergangenen Sommer, während des letzten Gaza-Krieges, schrieb sie über das Leben in Israel für das Magazin "Interview" und erklärte im Zeit Magazin die Sache mit dem Antisemitismus. Jetzt ist ihr Debütroman "Winternähe" erschienen. Es ist ein wunderbares Buch über Liebe und Politik und dabei so now, wie ein Roman nur sein kann, ohne peinlich zu werden.
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"Ich mag die Splitter und die Risse. Alles muss heutzutage glatt sein. Meine Beine dürfen keine Haare haben, mein Telefon darf keine Kratzer haben, ein Mensch darf keine Ecken und Kanten haben, Gespräche müssen ohne Aufregung ablaufen. Bloß keine Angriffsfläche bieten, schön abrutschen", erklärt die Hauptfigur Lola ihrer Tinder-Affäre Shlomo, als der vorschlägt, ihr kaputtes Telefondisplay auszutauschen.
Lola ist 34, lebt in Berlin und arbeitet in einer Agentur. Damit wäre die Hauptfigur in Mirna Funks Debütroman "Winternähe" schnell ein glattes Klischee. Doch Funk hat ihre Lola mit einer komplexen Familiengeschichte ausgestattet: Aufgewachsen bei jüdischen Großeltern in der DDR, weil der Vater erst nach Westberlin und später nach Australien abgehauen ist und die Mutter zwar ein Kind, doch keine Mutterschaft wollte, spiegelt Lolas Leben die europäische Geschichte im Privaten. Was heißt hier jüdisch? Wer definiert wen?
S. Fischer Verlag
Lola begegnen die LeserInnen zum ersten Mal auf einer Toilette in einem Gerichtsgebäude. Sie malt sich mit schwarzem Kajal mit Glitzerpartikeln ein Hitlerbärtchen über ihre Oberlippe und kehrt in den Verhandlungssaal zurück. Lolas Aktion ist eine Form der Selbstermächtigung. Denn: Lola führt im Gericht Prozess. Eines ihrer Selfies wurde in einer Ausstellung ohne ihr Wissen gezeigt. Das wäre schon Ärger genug, hätte nicht auch noch ein Bekannter ihrem Selfie dort mit Edding ein Hitlerbärtchen verpasst. Der Vorfall wird Lola und ihr Leben verändern.
Berlin, Tel Aviv, Bangkok
In der Handlung spielt sich die volle Breite an Gefühlsleben ab. Dabei rührt die Erzählung in wenigen Passagen zu Tränen, unterhält die meiste Zeit mit Scharfsinn und klugem Humor.
Lola quert als Mädchen wöchentlich die Mauergrenze, ausgestattet mit einem Kinderreisepass. Nach der Hand ihrer Mutter darf das Kind nie fassen, stets nur sich mit einem kleinen Finger beim Finger der Mutter einhaken. Die Stimmungswechsel des Vaters nennt sie für sich "Reisvorfälle", weil kleinste alltägliche Missgeschicke diesen Mann aus der Fassung bringen. In den Ferien reist er mit der Elfjährigen durch Israel, macht das Kind "Holocaust-fit" mit einer Reise durch die Negev-Wüste, an den Strand von Gaza und Fahrten in die Westbank. Die Großmutter väterlicherseits hat ein Konzentrationslager überlebt.
In den Dialogen mit ihrer Tinder-Affäre Shlomo rollt sich die Geschichte Israels auf und die Gegenwart des Landes wird unmittelbar vermittelt. Die schwere, feuchte Luft in Israel, die Hitze und die "Booms", wenn das Luftabwehrsystem Iron Dome von der Hamas abgefeuerte Raketen sprengt, beschreibt Funk, als läge man selbst in Tel Aviv und hätte nebenbei Sex mit der neuen großen Liebe. Die Atmosphären der Schauplätze des Romans sind literarische Reisen. Berlin, Tel Aviv, Bangkok.
Bella Lieberberg
"Die Deutschen kennen kein Eingedenken"
Hineinlesen kann man hier
Mirna Funk erzählt von persönlichen und politischen Konflikten in einer klaren Sprache. Seit Doron Rabinovici die Frage nach der jüdischen Identität in seinem unterhaltsamen und cleveren Roman "Andernorts" stellte, hat sich kein Werk der Gegenwartsliteratur so klug und zugleich unterhaltsam-leicht dieser Frage gestellt. Dabei ist Funks Haltung eine politische.
"Zu viele tote Menschen, zu viele Namen. Was bleibt, ist die Erinnerung. Das haben die Deutschen immer missverstanden und tun es auch noch heute. Den Überlebenden ging es nie darum, Schuldgefühle auszulösen oder den gemeinen Deutschen auf alle Zeit zu verdammen, sondern an die Toten zu erinnern."
Würde man diesen Sommer nur ein Buch in den Urlaub mitnehmen, es könnte dieses sein. Man könnte am Ende nochmal von vorn anfangen.