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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

3. 8. 2015 - 18:26

Am Schwarm vorbei

Das Elend der anderen und die Unannehmlichkeiten der Urlauber_innen. Transkontinentale Überfahrten in Zeiten der Flüchtlingskrise.

Mich auf dem Urlaub in Wien davon fernzuhalten, was es aus der Wahlheimat zu lesen gibt. Das war eigentlich der Plan.

Hat dann aber natürlich nicht geklappt.

Und je mehr dann von den britischen Medien zu mir durchgedrungen ist, desto genauer hab ich mich an den Blick dieser einen Frau erinnert.

Es war vor neun Tagen, wir waren gerade aus dem Channel Tunnel herausgefahren, in Richtung der Autoroute Nummer 16, quer durch Frankreich und Deutschland bis nach Wien. Auf dem Weg dorthin hatten wir mit Staus und stundenlangen Wartezeiten gerechnet.

In Kent steht schließlich schon seit Monaten der Verkehr über den Kanal Schlange, und die M20, die hauptsächliche Autobahn von London in Richtung Dover und Folkestone, wo die Fähren und die Kanalzüge abgehen, verwandelt sich fast ständig unter dem Motto "Operation Stack" zu einem Parkplatz für tausende LKWs, die mangels Kanalzügen und Fähren mit ihrer verderblichen Ware auf dem Buckel in der Sommerhitze herumstehen.

Auf die gar nicht so einfachen Gründe dafür komm ich noch zurück.

Blick aus dem Auto auf Stau vor dem Kanaltunnel

Robert Rotifer

Vorletzten Freitag, auf dem Weg zum Tunnel

Wir als locals hatten uns jedenfalls via eine jener klassischen, links und rechts von hohen Hecken gesäumten englischen B-Roads an der Autobahn vorbei in Richtung Eurotunnel Terminal geschummelt, waren an Kolonnen wartender LKWs vorbei und ohne viel Verzögerung an der Grenzkontrolle in einen der zweistöckigen Konservendosen-Züge eingefahren, die einen durch die Röhre ans Festland bringen.

Blick von der Wartespur Richtung Kanaltunnel

Robert Rotifer

In der Wartespur: Definition von Ironie

Und als wir dort ankamen, schien alles normal, bis eben an der Autobahn-Zufahrt gleich nach dem Tunnel-Ausgang diese Leute in Lumpen auftauchten, die versuchten, die Fahrbahn zu queren.

Mein Blick blieb an den Augen dieser einen Frau hängen, die direkt vor uns in aller Ruhe ihr rechtes Bein über die Leitschiene hob, so als hätte sie dasselbe schon etliche Male getan. Es war einer dieser Momente, wo man abschätzen muss, was in den nächsten Sekundenbruchteilen passiert, also schaute ich ihr in die Augen, und es schien mir so, als schaute sie zurück. Abgeklärt, fast ein wenig sarkastisch.

Da sind diese Leute in ihren Autos, schien der Blick zu sagen. Da sind sie, mit ihren EU-Pässen und ihren Kofferräumen voller Kleidung und Proviant. Da fahren sie ein und aus.

Und ein paar Sekunden später waren wir schon außer Sichtweite.

Diese Frau war einer jener Menschen, die der britische Premier David Cameron jüngst als Teil eines "Schwarms" bezeichnete, der versuche, auf der Suche nach einem besseren Leben nach Großbritannien zu kommen.

Seine Wortwahl brachte ihm einiges an Kritik ein, aber kam nicht überraschend, hatte doch die Kolumnistin Katie Hopkins schon im April in der größten britischen Tageszeitung The Sun die ertrinkenden Asylsuchenden im Mittelmeer als "Küchenschaben" bezeichnet, die "zwar ein bisschen so aussehen wie Bob Geldofs Äthiopien so um 1984 herum", aber dazu "gebaut" seien, "einen Nuklearkrieg zu überleben".

Rescue boats? I'd use gunships

The Sun

Die Kolumne von Katie Hopkins aus dem April, ironischerweise mit einem Bild des weiß geschminkten Sol Campbell als Teil einer Anti-Rassismus-Kampagne daneben.

Jene Flüchtlinge, die es in den dreieinhalb Monaten seit Hopkins' Kolumne nicht nur übers Mittelmeer, sondern bis nach Calais geschafft haben, wo sie auf der langen Suche nach einem Ort, der sie aufnimmt, schließlich wieder das Festland unter den Füßen verlieren, sind genau die, denen der britische Boulevard nun - so wie Hopkins damals in ihrer Kolumne - tatsächlich die Armee an den Hals wünscht ("Calais: Send in the Army" titelte die Daily Mail letzten Donnerstag).

Der provokante Ausritt von gestern ist also seither Mainstream geworden und heute schon impliziter Teil des Vokabulars des Premierministers.

Falls sich jemand fragen sollte, was die Opposition dazu zu sagen hat: Harriet Harman, die Interims-Chefin der Labour Party, kritisierte am Wochenende zwar David Camerons Insektenvergleich, forderte aber gleichzeitig ernsthaft Schadensersatzzahlungen seitens der französischen Regierung an von Verzögerungen an der Grenze betroffene britische Urlauber_innen und Frächterunternehmen.

Zitat aus der Hopkins-Kolumne.

The Sun

Hervorgehobenes Zitat aus der Hopkins-Kolumne in der damaligen Online-Ausgabe der Sun, in der sie Flüchtlinge in Calais voraussagte und gleich vorsorglich mit einem "Norovirus auf einem Kreuzfahrtschiff" gleichsetze.
Daily Mail Titel: "Calais: Send in the Army"

Daily Mail

Schließlich sind nicht nur die Flüchtlinge mit ihrem Elend und ihrem desperaten Überlebenskampf schuld an britischen Unannehmlichkeiten. Dazu kommen noch - etwas, das eine Labour-Chefin offenbar nicht verstehen kann - die anhaltenden Streiks französischer Bediensteter der Schifffahrtsgesellschaft MyFerryLink. 600 von ihnen verlieren nämlich ihre Jobs, weil die im Eigentum der Betreiber des Eurotunnel stehende Firma von der Wettbewerbskommission zum Zwangsverkauf verurteilt wurde.

Seit Juni tauchen daher nun regelmäßig - meist aus Bergen brennender Reifen errichtete - Blockaden der Fahrbahnen und Schienen auf der französischen Seite des Kanaltunnels auf. Die daraus folgenden Staus nützen Flüchtlinge, um sich in LKWs oder Kanaltunnelzüge, manchmal gar auf deren Dächer zu schmuggeln. Erst letzten Mittwoch kam dabei wieder ein junger Sudanese ums Leben, schon der neunte seit Juni.

Jedesmal, wenn einer stirbt, steht wieder der Verkehr.

Und wo der Verkehr steht, endet die britische Toleranz.

Es sind geschätzte 3.000, die nahe Calais in einer spontan entstandenen, von den britischen Medien ein klein bisschen rassistisch "The Jungle" genannten Favela leben und meist unter dem Schutz der Nacht die Überfahrt nach Britannien riskieren. Eine im Vergleich zu den Millionen, die in der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg einen Platz zum Leben suchen, natürlich verschwindend geringe Zahl, die nach der Durchquerung eines abweisenden Europa auf der letzten möglichen Station ihrer Flucht noch einmal alles riskieren.

Und doch vermitteln die Schlagzeilen der britischen Medien bzw. die Wortmeldungen von Innenministerin Theresa May den Eindruck, ausgerechnet Britannien, mit seiner scheinbar so großzügig einwandererfreundlichen Atmosphäre, sei der Hauptanziehungspunkt aller Flüchtlingsströme (Österreicher_innen wird dieses verzerrte Selbstbild bekannt vorkommen).

Heute ist im Daily Telegraph ein von Theresa May und ihrem französischen Amtskollegen Bernard Cazeneuve gemeinsam verfasster Artikel erschienen.

"Unsere Straßen sind nicht mit Gold gepflastert", heißt es da am Ende eines Absatzes über Migrant_innen, die wegen der "Aussicht auf finanziellen Gewinn" ihre Heimat verlassen und ihr Leben riskieren. Am Ende des Texts wird auf den kommenden EU-Gipfel zum Thema in Valletta im November verwiesen und von gemeinsamem "Leadership in Europe" gesprochen.

So als hätte Großbritannien nicht schon vor Monaten verkündet, sich an keiner europäischen Flüchtlingsaufnahmequote zu beteiligen.

Wenn wir Ende der Woche wieder zurück auf die Insel fahren, werden die Briten angeblich bereits ihren von David Cameron angekündigten, noch höheren Zaun am Eingang des Kanaltunnels gebaut und noch mehr Schnüffelhunde zum Einsatz gebracht haben. Die Überfahrt, die sich jetzt schon wie der Eintritt in einen Hochsicherheitstrakt anfühlt, wird noch ein bisschen klaustrophober sein. Alles wird getan, damit wir den verlumpten Leuten, an denen wir vorbeifahren, nicht mehr in die Augen schauen müssen.