Erstellt am: 30. 7. 2015 - 18:47 Uhr
"Wir brauchen einen Systemwechsel"
Update 31.7.2015:
Das Land Niederösterreich hat ab Montag 3.8. einen Aufnahmestopp für das Lager Traiskirchen angekündigt und die Bundesregierung hat einen Fünf-Punkte-Programm zum Thema Asyl präsentiert.
Wenn man mit der Badner Bahn Richtung Traiskirchen fährt, kommt man am Shoppingtempel der SCS in Vösendorf vorbei, wo jährlich dreistellige Millionenbeträge umgesetzt werden. Acht Stationen weiter trifft man Menschen, die keinen Cent in der Tasche haben.
Am Bahnhof Traiskirchen bittet mich eine junge Frau um Geld, ein schwer traumatisiert wirkender Teenager will meine Limo. Scharen junger Flüchtlinge streifen ziellos durch das Stadtzentrum, Familien mit Babys sitzen am Gehsteig und in den ausgetrockneten Wiesen im Schatten der Bäumen. Es beginnt zu regnen.
Daniela Derntl
Vor dem Caritas-Zelt beim Türkisch-Islamischen Kulturverein steht eine Menschenschlange. Hier holen sich die Flüchtlinge Sachspenden ab - also Kleidung, Toilett-Artikel, Schuhe, Schlafsäcke, Isomatten und Kinderspielzeug.
Zuerst kommen Frauen und Familien dran, danach werden die Männer eingelassen. Viele von ihnen sind noch keine zwanzig Jahre alt, die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Es herrscht ein lautes, aufgeregtes Stimmen-Wirrwarr. Müll liegt herum, Anrainer beschweren sich.
APA/EINSATZDOKU.AT
Stimmung angespannt
Die Stimmung in der Bevölkerung ist mehr als angespannt. "Der Hass in der Bevölkerung steigt, obwohl die Flüchtlinge gar nichts dafür können", meint ein Passant.
Das Flüchtlingslager in Traiskirchen gibt es seit 1956, die Bewohner sind es also gewohnt, dass sich hier Flüchtlinge aufhalten. Aber nicht in diesen Massen und nicht unter diesen menschenunwürdigen Zuständen. Jeder ist mit der Situation unglücklich.
Das Innenministerium hat den Antrag von Amnesty International mittlerweile genehmigt, die die menschenrechtliche Situation im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen überprüfen will. Mehr dazu auf orf.at.
Laut offiziellen Angaben befinden sich momentan 4.500 Flüchtlinge im Lager, eine Dame, die gerade Getränke aus dem Auto in ihr kleines Geschäft räumt, glaubt diese Zahlen nicht. Sie ist extrem aufgebracht, sie war am Vortag im Lager und beschwert sich, dass momentan keine Journalisten ins Lager gelassen werden: "Das gibt’s doch nicht, dass in Österreich das verheimlicht wird! Schauen sie, dass sie reinkommen! Ich war gestern drin und habe geliefert. Die Leute müssen in der Wiese und auf dem Asphalt schlafen, auch die Kinder. Es ist ein Elend. Mir sind die Tränen gekommen."
"You get killed for no reason"
Tränen kommen auch dem 17-jährigen Obaida, als er mir von seiner Flucht aus Syrien erzählt: Sein 9-jähriger Cousin wurde erschossen: "That happens in Syria. You get killed for no reason. He got out of the mosque and a sniper shot him. And when your relatives got killed in Syria, every family-member is wanted by the Baschar al-Assad-System. So they needed me, my father, everybody with the same last name as my cousin. The police stopped us and asked us, if he was our relative and we said no, he is not related to us because we didn’t want to go to the jail. That happened to some of my relatives, because they had the same last name as my dead cousin. So we left Damaskus and went to Irak. But then the ISIS was coming."
APA/HELMUT FOHRINGER
Freiwillige Helfer
Sophie, die freiwillig beim Caritas Omni.Bus hilft, nimmt Obaida in den Arm und tröstet ihn. Sie ist seit einer Woche in Traiskirchen und weiß, dass jeder hier solche Geschichten zu erzählen hat. Die Geschichte eines Flüchtlings, der 15 Stunden im Mittelmeer geschwommen ist, ist ihr besonders in Erinnerung: "Er wurde gerettet und wurde wieder zurückgeschickt. Das zweite Mal hat er sich nicht mehr übers Meer getraut, weil er jetzt eine Wasserphobie hatte, was nachvollziehbar ist, wenn man 15 Stunden lang in einem zwei mal drei Meter Boot mit, ich weiß nicht, 40 Menschen drinnen sitzt."
Sophie kümmert sich um die Flüchtlinge und verteilt und sortiert die Spenden: "Wir brauchen einen Systemwechsel. So kann es nicht funktionieren, es hat hier gar keine Strukturierung mehr. Es haben die Menschen zu wenig von allem und das geht so nicht. Es kann nicht sein, dass Kinder im Freien schlafen und schwangere Frauen nicht einmal Decken haben, um sich zuzudecken. Das darf nicht passieren in Österreich. Dafür sind wir ein zu reiches Land."
APA/EINSATZDOKU.AT
Caritas benötigt momentan Zeit- und Geldspenden
Geleitet wird der Caritas Omni.Bus, der direkt vor dem Flüchtlingslager steht, und das Caritas-Zelt von Matthias Drexel, der alle Hände voll zu tun hat. Er koordiniert die Spendensammlung und die Ausgabe. Momentan braucht die Caritas keine Sachspenden mehr, die Solidarität aus der Bevölkerung war so groß, dass der Omni.Bus fürs Erste ausreichend versorgt ist. Sobald wieder Dinge benötigt werden, wird die Caritas wieder einen Aufruf starten.
Anders sieht es bei den Zeit- und Geldspenden aus: Die Caritas freut sich über freiwillige Helferinnen und Helfer vor Ort und über Geld, um den Betrieb und die Miete für das Caritas-Zelt zu bezahlen.