Erstellt am: 25. 7. 2015 - 11:29 Uhr
Cornern ist der neue Trend!
Außerdem ist das ärztliche Wartezimmer der Club der Älteren, hier hängt man mit Gleichaltrigen ab. Vor meinem letzten Arztbesuch war ich nun aber tatsächlich nachts aus gewesen, hatte in trauter Runde vor dem San Remo in Kreuzberg gesessen, die vorbeiziehenden Hostelhorden betrachtet und dabei fünf bis sieben Aperol-Spritz getrunken und einiges weggeraucht, sodass ich am nächsten Morgen ein wenig geschwächt in einer überlaufenen orthopädischen Praxis saß.
Automatisch griff ich nach den Zeitschriften und erwischte zufällig eine "Grazia" vom Juni 2015. Ich informierte mich teilnahmslos über die Must-Haves der vorletzten Saison und verfolgte die Fashionsünden der mir weitgehend unbekannten Stars, als ich im Gesellschaftsteil eine Überschrift sah: Cornern ist der neue Trend!
Schlagartig wurde ich wach, das Blut schien mir in den Ader zu gefrieren: Ist es jetzt so weit? Hab ich wirklich einen neuen Trend verpasst? Innerlich bestürzt las ich den kurzen Artikel:
Laue Sommernächte in stickigen Clubs verbringen? So last season. Das gepflegte Hang-out am Straßenrand hat das Schlangestehen vor In-Locations oder anstrengendes Partyhopping ersetzt.
Cornern (von corner, also Ecke) ist das neue große Ding. Besonders im Sommer bilden sich mittlerweile Menschentrauben an den, nun ja, einschlägigen Ecken. Stylishe Männer und Frauen hocken am Fußgängerweg, trinken günstiges Bier vom Kiosk oder nutzen die letzten Sonnenstrahlen des Tages, um noch ein paar Skateboardtricks vorzuführen. Für Musik sorgen Ghettoblaster, oder ein Hobbymusiker hat seine Klampfe dabei. Rauchverbot? Geschenkt! Türsteher? Wer braucht denn so was? An welcher Ecke es rundgeht, wissen eh nur die Insider.
CC BY 2.0 Matthias Ripp via flickr
Erleichtert ließ ich das Käse-Heftl sinken. Ach so! Es ging um das alte Thema "draußen rumstehen", das in Berlin doch spätestens seit 1995 aktuell war! Diesen Trend hatte ich bereits um 2000 in einem Rückblick auf die Neunziger Jahre und die galerie berlintokyo in Berlin Mitte beschrieben:
Weil es drinnen meist zu stickig, zu heiß, zu voll, das Programm zu anstrengend oder langweilig-bizarr war, standen alle immer draußen herum. Es gab Wochen, da war man immer da, aber nie drin.
Ob damals die Idee geboren wurde, sich von der altbackenen Institution "Club" zu emanzipieren und sich in den warmen Monaten irgendwo mit Menschen und Getränken auf interessanten Brachgeländen oder vor zerbröckelten Fassaden zu treffen? Ein szenebekannter Prominentenschreiner schlug damals schon vor, eine etwa sechs Stufen hohe Treppe auf Rollen anzufertigen. Sie sollte Zentrum des Herumstehens sein, eine Grenze zwischen Außen und imaginärem Innen markieren und so Orientierung bieten.
Dieser Gedanke ist jedoch im Ansatz falsch. Das Draußenstehen ist nämlich nur so lange attraktiv, wie es sich vom Drinnenstehen distanziert. Wer draußen steht, sagt: "Was schert mich der DJ, was kümmert mich die Installation! Ich brauche mich nicht an einer Bar oder sonst was emotional anzubinden. Die rauverputzte Hauswand ist mir Halt genug."
Allerdings ist seit damals in Berlin das touristische Herumlungern auf Brücken hinzu gekommen, was eigentlich dann doch streng genommen "bridgen" statt "cornern" heißen müsste. Aber auch darüber habe ich die FM4-Leserinnen bereits 2010 informiert.
Rösinger
Inzwischen wird ja in Berlin auf mehreren Kreuzberger und Neuköllner Brücken gebridget. Das heißt auf den Brücken sitzen junge Deppen mit großen Notizbüchern samt Griffel in der Hand und blicken schwermütig sinnierend in die Ferne, andere tanzen blöd im Sonnenuntergang rum oder posen sonst irgendwie in der Landschaft.
"Grazia" hingegen behauptet: Der wirklich lässigste Nightlifetrend ever kommt ursprünglich aus dem New York der Achtzigerjahre. Damals trafen sich rivalisierende Breakdance-Gangs in der Bronx, um in Tanz-Battles gegeneinander anzutreten.
Auch hier muss ich leider besserwisserisch eingreifen, hatte ich doch in früheren Forschungsarbeiten zum Thema "Ausgehen" bereits nachgewiesen, dass das draußen Rumstehen, also das "Cornern" auf die mythische Altberliner Figur "Nante, der Eckensteher" zurück geht.
gemeinfrei
Nante, mit bürgerlichem Namen Ferdinand Strumpf, geboren 1803 in Berlin, war ein sogenannter "Dienstmann". Er verbrachte eigentlich mehr Zeit in der Destillerie als bei der Arbeit und kommentierte das geschäftige Treiben auf den Berliner Straßen mit dem typisch berlinerischen Humor. Dieser Humor zeichnet sich angeblich durch Sarkasmus, dem steten Misstrauen gegenüber "denen da oben" und einer eigenwilligen Grammatik aus.
Zu größerem Ruhm gelangte die Figur des "Nante" durch das Volkstheaterstück von Adolf Glaßbrenner "Eckensteher Nante im Verhör", das 1832 uraufgeführt wurde. Seitdem geistert der Prototyp des Berliner Volkshumors durch die Anekdoten und Geschichten der Stadt.
Schlussendlich musste ich die Grazia weglegen, weil ich ins Wartezimmer gerufen wurde. Der unfreundliche Orthopäde konnte meine Dr-Google-Verdachtsdiagnose nicht bestätigen, mir aber auch sonst in keinster Weise weiterhelfen. Trotzdem ging ich beschwingt nach Hause - hatte doch der Vormittag im Wartezimmer bewiesen, dass ich zumindest den von "Grazia" entdeckten Trends noch immer weit voraus war.