Erstellt am: 23. 7. 2015 - 16:15 Uhr
Psychische Unterstützung ist gefragt
Khatera Sadr zieht die Trennwände zu, um in Ruhe von sich zu erzählen. In den Nebenräumen bereiten Frauen mit ihren Kindern Baklava zu. Khatera Sadr ist Obfrau des Vereins SOMM in Graz, in dem sich Frauen zusammengetan haben, um die gesellschaftliche Teilnahme von Migrantinnen und Musliminnen zu fördern und einander zu unterstützen. Sie hilft Migrantinnen, derzeit vor allem Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien, sich im Alltag in Österreich zurechtzufinden.
Khatera Sadr kommt selbst aus Afghanistan. 2001 ist sie nach Österreich geflohen, inzwischen ist sie österreichische Staatsbürgerin und erzählt mit im Interview, wonach man sich als Flüchtling am meisten sehnt.

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Welche Vorstellungen hatten Sie, als Sie aus Ihrer früheren Heimat flohen? Wie ist es Ihnen gegangen?
Niemand verlässt sein Heimatland grundlos. Das ist eine sehr schwierige Entscheidung und ein sehr schwerer Weg. Für mich war es unmöglich, dort weiter zu leben. Es war eine plötzliche Entscheidung. Man weiß nicht, wohin oder wo man ankommt. Fluchthelfer oder Schlepper entscheiden mehr als du. Ich bin mit meinem Mann und meinem damals einjährigen Sohn im Winter geflohen. Wir sind stundenlang zu Fuß im Wald oder im Schnee gegangen, gelaufen. Einige Wege haben wir mit einem geschlossenen Bus zurückgelegt, ich konnte nie sehen, wo wir sind oder wohin wir gefahren werden. Zwanzig Menschen in einem kleinen Bus, aufeinander, geschleppt. Einige vorne, einige hinten, und ich wusste nicht, wo mein Mann ist.
Es sind Momente gekommen, in denen ich keine Hoffnung mehr für das Leben hatte. Auf einmal habe ich mitbekommen, dass mein Mann schon ausgestiegen war, und ich und mein Sohn allein geblieben sind. Ich hatte keine Hoffnung mehr, meinen Mann irgendwo wieder zu sehen. Irgendwo stoppte das Auto, einige blieben zurück. Unterwegs fing der Bus Feuer und wir blieben ganz zurück. Ich bekam einen Schock. Am Abend sind wir irgendwo angekommen und dort war auch mein Mann. Aber viele andere verloren einander.
Es war sehr, sehr kalt und wir waren lange zu Fuß unterwegs. Mein Sohn war ein Jahr alt und fing zu weinen an. Der Fluchthelfer nahm mir meinen Sohn weg und lief weg. Ich bin hinterher gelaufen. Der Mann hat meinem Sohn auf den Mund geschlagen. Zuerst habe ich gedacht, dass er meinen Sohn irgendwo hinbringt oder einfach umbringt. Es war so schrecklich. Wir gingen sieben Stunden auf eine Grenze zu, die dann geschlossen war. Es hieß, die Grenze wäre zu, weil mein Sohn so laut geschrien hätte. Die ganze Gruppe, etwa 25 Leute, musste wieder zurück und war böse auf mich.
Ich habe meinen Sohn gestillt, Gott sei Dank habe ich genug Milch gehabt. Duschen war unmöglich, nach Wochen einmal in einem Haus. Es war Winter. Wäre es Sommer gewesen, hätten wir alle Krankheiten bekommen. Essen haben die Fluchthelfer uns nur in geringen Mengen gebracht, gerade zum Überleben. Ich habe auch überhaupt keinen Appetit gehabt, ich konnte kaum essen.
Und dann in Österreich: Wo sind Sie angekommen? Können Sie sich an die erste Zeit erinnern?
Irgendwann hat ein Fluchthelfer zu uns gesagt, da sind Schlauchboote, ihr könnt die selber aufpumpen und auf der anderen Seite des Bachs ist der Zielort. Wir warten total fertig, wir waren viele Stunden zu Fuß gegangen. Wir haben nicht gewusst, wo das Ziel wäre. Es war wirklich sehr gefährlich, eine Frau ist fast ertrunken. Dann sind wir wieder durch einen Wald gekommen und nach einer halben Stunde haben wir ein kleines Dorf gesehen. Da haben wir das Gefühl gehabt, das könnte der Zielort sein. Wir haben eine Kirche gesehen und da wollten wir Schutz suchen. Bevor wir bei der Kirche ankamen, haben Polizisten auf Streife uns gefunden und uns zur Polizeistation gebracht. Sie haben gesagt: Da ist Austria.
Wir wurden alle in einen Raum gebracht, bekamen Brot und ein bisschen Wasser. Wir waren fertig und müde, saßen alle auf dem Boden. Meinem Sohn gaben die Polizisten ein Fläschchen und etwas Milch. Nach ein paar Stunden mussten Frauen und Männer in getrennte Räume. Das war dann sehr schrecklich. Eine Frau mit Mundschutz – okay, ich verstehe, wir waren sehr lange auf dem Weg, aber wie sie agiert hat, war sehr unangenehm. Du bekommst ein schlechtes Gefühl. Sie hat Befehle erteilt, ich müsse mich ausziehen und mich umdrehen. Ich weiß nicht, was bringt das? Mein Sohn schlief. Sie sagte, leg' ihn auf den Boden und zieh' ihn aus.
Was wir an Gold als Armreifen hatten, mussten wir abgeben. Am nächsten Tag – das vergesse ich auch nie – haben sie uns mit einem Auto mit Gittern nach Traiskirchen gebracht. Da war das schlechte, unangenehme Gefühl, dass ich etwas Schlechtes bin, wie ich mit diesem Auto abgeholt wurde. Dann war etwas sehr komisch: Meine Schuhe waren durch diese Wege durch die Wälder kaputt, ein Absatz war abgebrochen. Ich bin so schief gegangen, war einfach ganz müde, ich habe elf Kilo abgenommen in dieser Zeit. In Traiskirchen mussten wir ein Röntgen machen wegen Tuberkulose-Gefahr, weil wir aus Afghanistan kamen, und ein Interview: Wo warst du, wie bist du hierher gekommen, mit welchem Auto und welchen Leuten? Wir waren total müde und fertig und mussten durch das Berichten noch einmal den ganzen Weg gehen. Das war wirklich nicht angenehm. Man braucht Ruhe und Zeit, um erst psychisch zu verarbeiten, was man erlebt hat. Dann wäre es besser für das Interview.
Und was haben Sie sich erwartet?
Ich habe mir Mitmenschlichkeit erwartet. Dass man als Mensch wahrgenommen wird und nicht als schuldhafter Mensch. Dass ich in Sicherheit komme, das war sehr wichtig. Denn den ganzen Weg über und in Afghanistan waren wir nicht sicher. Wenn man so bürokratische Dinge erlebt hat – „Zack-zack-zack zieh dich aus!“ oder die Fahrt im vergitterten Auto nach Traiskirchen – kommt das zum Erlebten noch hinzu. Okay: Du bist sowieso nicht herzlich willkommen, das wissen wir schon.
Die Leute, die hierher kommen, haben sicher ein schönes Leben gehabt. Bevor die Situation so wurde, dass man flüchtet. Die Ehre, also die Würde, sind einem lange wichtig.
Nachdem ich mit Migrantinnen arbeite, weiß ich: Hier werden alle Migrantinnen als arm bezeichnet. 'Sie waren arm, deshalb sind sie hierher gekommen.' Dem ist aber nicht so. Okay, Armut ist auch nichts, wofür man sich schämen sollte. Aber man wird so wahrgenommen, als wäre man nur für Geld hierhergekommen. Das ist nicht wahr. Auf mich trifft das nicht zu. Wir haben ein schönes Leben gehabt, bevor der Krieg begann und wir alles verloren. Für mich war es psychisch sehr belastend, in dieser Reihe in Traiskirchen auf das Essen zu warten. Oder wir bekamen ein Lunch-Paket. Das finde ich schön. Aber psychisch ist das alles sehr erdrückend. Traiskirchen ist riesig, mit vielen Menschen. Ich erwarte mir nicht, dass ich was Schönes bekomme, aber ich sage, alle sind psychisch belastet.
Ich bin seit vierzehn Jahren in Österreich. Aber wenn ich das Gefühl bekomme, ich bin anders und ich bin nicht willkommen und etwas geht gegen meine Würde, belastet das immer noch sofort meine Psyche.
Als ich ein paar Jahre Sozialhilfe bekommen habe, habe ich ein paar Mal sehr geweint. Soziale Unterstützung ist wunderbar, aber die Beamten sind leider sehr unangenehm. Man will gerne arbeiten, aber Migrantinnen sind bei der Arbeitssuche sehr benachteiligt. Ich habe immer versucht, hier irgendwie eine Arbeit zu finden und eine Ausbildung gemacht. Aber das gelingt nicht allen.
Was haben Sie in Afghanistan gemacht?
Ich habe Literatur studiert, auch einige Zeit im Iran. Hier in Österreich habe ich versucht, Ausbildungen zu machen und Soziokulturelle Jugendpädagogik studiert. Aber wie gesagt: Für viele gibt es diese Möglichkeiten nicht. Ich habe in der Hauptstadt, in Kabul, gelebt. Wenn eine Frau vom Land aus Afghanistan kommt, hat sie keine Schulbildung. Nicht aufgrund einer von Männern ausgeübten Unterdrückung, sondern aufgrund der Unsicherheit im Land konnten sie keine weiten Schulwege auf sich nehmen. Auf einmal kommen sie durch die Flucht hierher und müssen eine fremde Sprache lernen.
Wir sehen hier bei SOMM bei Bildungsprojekten: Die Migrantinnen bemühen sich sehr und viele sind sehr begabt. Sie hatten zuvor nur nicht die Möglichkeit, sich zu bilden. Doch auch wenn sie die Sprache beherrschen, bekommen sie keine Arbeit. Wir kennen sehr viele hoch gebildete Migrantinnen, die hier große Hürden überwinden müssen und trotzdem nicht arbeiten können. Das Tragen eines Kopftuchs ist in Österreich erlaubt. Aber viele Arbeitgeber sagen dazu nein. Wir im Verein versuchen, die Frauen gut zu unterstützen und halten Kontakt mit der Gleichbehandlungsstelle.
Wie wichtig ist denn die Religion für die Vereinsarbeit, weil es heißt, „SOMM - Selbstorganisation für Migrantinnen und Musliminnen“?
Wir sind grundsätzlich für alle Migrantinnen da. Wir haben aber mitbekommen, dass es viele Vorurteile speziell gegen Musliminnen gibt und daher brauchen sie Unterstützung.
Nachhause, nach Afghanistan zurückzukehren, war das niemals eine Option für Sie?
Ich traue mich nicht. Und wir haben leider niemanden mehr in Afghanistan, alle Verwandten sind verstreut in der ganzen Welt. Mein Opa wird in Afghanistan vermisst. Wir wissen nicht, ob er tot ist oder lebt. Voriges Jahr hat man ein Grab mit fünftausend Totenköpfen und einer Namensliste gefunden. Der Name meines Opas stand dabei.
Wer hat diese Menschen getötet? In Österreich haben wir nur von den Taliban gehört.
Taliban, und zuvor wurden in der kommunistischen Zeit hochgebildete Leute einfach vernichtet. Mein Großvater war Uni-Professor, mein Papa ist Arzt. Das war für uns sehr gefährlich. Wir mussten von Afghanistan weg.
Wenn Sie mitbekommen, dass jetzt Zelte für Flüchtlinge in Österreich aufgestellt werden, wie sehen Sie das?
Ich habe Ihnen gesagt, als wir in Traiskirchen angekommen sind, waren dort Räumlichkeiten und Essen und Kuchen. Es waren Räume mit sehr vielen Leuten, die dort angekommen waren. Das allein war schon nicht angenehm, weil das ist auch ein Teil des Fluchtweges und du kommst immer noch nicht zur Ruhe. Und es ist für die Würde sehr unangehm. Und jetzt mit Zelten... und ich habe die lange Schlange Wartender um Essen gesehen. Besonders im Fastenmonat. Die Menschen warten so lange aufs Fastenbrechen.
Österreich unterstützt Migrantinnen auch sehr gut, wenn wir nicht von Diskriminierung sprechen, die leider auch ein großer Teil ist. Die Migrantinnen haben große Unterstützung v.a. durch die Familienzusammenführung bekommen. Da gibt es auch eine positive Seite. Wir haben hier Minderjährige aus Afghanistan, die auch ihre Mütter und Geschwister nachgeholt haben. Aber wenn man jetzt so etwas hört und sieht, wie es auch den minderjährigen Flüchtlingen geht – das ist wirklich sehr traurig.
Wir versuchen, für die Flüchtlinge Kleiderspenden zu sammeln und denken viel an sie und hoffen, dass sich die Lage bessert. Aber wie gesagt: Zuerst brauchen sie psychische Unterstützung.
Fühlen Sie sich jetzt in Sicherheit?
Ja, sehr. Ich habe auch ein paar Jahre im Iran gelebt, dort war ich eine Ausländerin. Wenn ich hier Diskriminierung erlebe, fühle ich mich wieder heimatlos. Aber allgemein fühle ich mich sehr wohl. Wenn ich reise und zurück komme, empfinde ich Graz als Heimat. Doch „Ausländer“ oder Migrantin zu sein, belastet mich sehr. Das heißt: Ich habe viele Diskriminierungserlebnisse.
Ich fühle mich sicher. Aber in der letzten Zeit aufgrund von Islamophobie und nach dem Amokfahrer in Graz hören wir von unseren Klientinnen, dass absichtlich Autofahrer Gas geben. Mir selbst ist das passiert. Ich war mit einer Kollegin unterwegs und jemand hat mit seinem Auto Gas gegeben und dann „Hahaha“ gelacht. Ich war mit einer Mädchengruppe unterwegs und jemand holte ein Messer heraus und bedrohte uns. Gott-sei-Dank waren andere Menschen unterwegs. Da bekommt man schon einen Schock.