Erstellt am: 24. 7. 2015 - 13:08 Uhr
Portugal - Musterschüler der Troika
Es gibt diesen Moment in der europäischen Fußballgeschichte, der Freunde des gepflegten Kicks bis heute bass erstaunt und mit offenen Mündern zurücklässt. EM-Finale 2004, Portugal gegen Griechenland, Estadio da Luz in Lissabon, 57. Minute: Angelos Charisteas stürmt in den portugiesischen Strafraum, Flanke, wuchtiger Kopfball, Tormannfehler, 1:0 für Griechenland. Es war gefühlt die einzige Chance Griechenlands im gesamten Spiel, Portugal stürmte und stürmte, scheiterte doch immer wieder an sich selbst oder den quasi mit einer 10er-Kette verteidigenden Griechen. Griechenlands damaliger Trainer Otto Rehagel impfte seiner Mannschaft oft beschworene deutsche Tugenden ein: Kampf, harte Verteidigung, grausame Effizienz, nicht schön, aber am Ende erfolgreich. Eine Sensation. Und für die Portugiesen eine Katastrophe.
Umgekehrte Analogie
Das aber soll keine Geschichte über Fußball werden, sondern über die Stimmung in Portugal. Warum sie mit diesem Spiel beginnt? Vor einigen Tagen kam ich bei einer Solidaritätskundgebung für Griechenland im Zentrum Lissabons vorbei. Die Portugiesen, selbst seit Jahren in der Krise, müssten doch am ehesten auf eine Änderung der europäischen Politik hoffen, dachte ich. Doch statt Massen kamen nur ein paar Dutzend. Unweigerlich kam mir das Spiel in den Sinn. Sympathie für Griechenland aufzubringen, fällt den Portugiesen offensichtlich schwer. Auch in diesen Tagen, in denen das Land am anderen Ende der europäischen Peripherie vor dem Abgrund steht und obwohl hier wie dort die Austeritätspolitik zu einer sozialen Krise führte.
EPA/JOSE SENA GOULAO
Dass das hauptsächlich an diesem einen Spiel liegt, wäre aber etwas weit hergeholt. Der Rückblick bietet sich aus einem anderen Grund an, einer Analogie mit umgekehrten Vorzeichen: In der Eurokrise spielt Portugal heute so, wie einst die griechische Rehagel-Truppe. Seit das Land auf der iberischen Halbinsel mit einem 78-Milliarden-Notkredit der EU und des IWF vor dem Bankrott bewahrt werden musste, hat die Regierung unter dem liberal-konservativen Premierminister Pedro Passos Coelho einen strammen Austeritätskurs eingeschlagen, die von der Troika eingeforderten Reformen eingeleitet und die Vorgaben zum Teil sogar übererfüllt, was ihr von der Opposition viel Kritik einbrachte - und Häme.
Deutscher als die Deutschen
Im Frühjahr machte sich der Bloco de Esquerda (Linksblock) mit einer Plakatkampagne Luft. "Eine Regierung, die deutscher ist, als die deutsche" lautete die Parole neben einem Bild, auf dem Passos Coelho und Angela Merkel sich zulächeln. Während der Verhandlungen mit Griechenland gehörte Portugal zu den schärfsten Kritikern Griechenlands. Wohl auch, um zu Hause nicht vor dem Problem zu stehen, dass es plötzlich doch eine Alternative zu der als alternativlos bezeichneten Austeritätspolitik gibt.
Eine südeuropäische Regierung, die voll auf Linie mit Deutschland ist? Klingt wie eine Blaupause für ein politisches Pulverfass. Doch davon ist nichts zu spüren. In den letzten Jahren kam es zwar immer wieder zu größeren Protestkundgebungen und Streiks, aber eine kritische Masse ereichten die Unzufriedenen nicht. Und auch Solidaritätsbekundungen gegenüber Griechenland während den Verhandlungen in den vergangenen Wochen waren stets ein Minderheitenprogramm.
Dahinter stehen grundsätzliche Fragen: Warum sollten die Griechen auf halber Strecke ihr Reformprogramm abbrechen? Warum erneut einen Teil ihrer Schulden erlassen bekommen, während alle anderen Krisenstaaten weiterhin zum Sparen gezwungen sind? Die anfängliche Hoffnung, dass Griechenland den Anstoß für eine Neugestaltung der Krisenpolitik geben könnte, hat sich schnell zerschlagen. Statt Sympathie hört man nun stattdessen oft Sätze, die man eher in Nordeuropa verorten würde, Stichwort "faule Griechen", erzählt Miguel Athanasios Carvalho, Volkswirt an der Lissaboner Universität: "Vor allem in den letzten Wochen ist in Portugal die Meinung über Griechenland schlechter geworden. Viele Leute sagen, dass wir auch große Probleme haben, uns aber nicht so einfach der Verantwortung entziehen, wie es viele von Tsipras glauben. Und dazu kommt dieses Gefühl, dass wenn wir bestraft werden, es einen Grund haben muss, dass wir etwas falsch gemacht haben. Wenn wir leiden, dann muss das, ganz das alte katholische Denken, auch sinnvoll sein. Es wird hier nur von wenigen hinterfragt, wie wir leiden mussten, und ob das wirklich sinnvoll war."
Michael Riedmüller
Die Leiden der Portugiesen
Dass die Portugiesen leiden mussten, das steht außer Zweifel. Die Regierung hat seit 2011 die härtesten Einschnitte des Sozialsystems von allen EU-Ländern vorgenommen. Pensionen und Mindestlohn wurden gesenkt, drastische Sparmaßnahmen wurden eingeleitet, Steuern erhöht. So wurde seit Beginn der Schuldenkrise 2010 die Mehrwertsteuer beispielsweise von 13 auf 23 Prozent angehoben und die Gehälter von Staatsangestellten gekürzt. Die Folge war eine historische soziale Krise.
Bis zum Jahr 2013 ist die Wirtschaft um sechs Prozent abgestürzt, die Arbeitslosenzahl auf 18 Prozent in die Höhe geschnellt, die Jugendarbeitslosigkeit sogar aufs Doppelte. 2,5 Millionen Menschen leben an oder unter der Armutsgrenze, das ist jeder Vierte. "Manche Maßnahmen mögen grundsätzlich richtig gewesen sein", gibt Miguel zu bedenken. "Aber der Zeitpunkt war falsch. Wenn die Haushalte und Firmen kein Geld ausgeben können, dann kann der Staat nicht zur selben Zeit sparen. Das macht alles kaputt, und genau das ist hier passiert." Größere Protestbewegungen blieben trotzdem aus. Wie ist das möglich? "Ich glaube, dass das eine kulturelle Sache ist. Portugiesen akzeptieren einfach alles", sagt Miguel, während sein Gesichtsaudruck zwischen einem Schmunzeln und etwas verzweifelter Ungläubigkeit wechselt.
Sorgen vor der Ansteckungsgefahr
Die Regierung hat freilich eine andere Erklärung parat. Ohne die Maßnahmen würde Portugal heute wie Griechenland dastehen, schürt Passos Coelho immer wieder die Ängste der Bevölkerung. Und kann damit reüssieren. Seit Griechenland wieder in den Schlagzeilen ist, steigen die portugiesischen Sorgen vor einer möglichen Ansteckungsgefahr. Griechenland ist heute für viele ein abschreckendes Beispiel. Und die Regierung sieht die Entwicklung Portugals als Bestätigung dafür, dass die konventionelle Antwort auf die Krise funktioniert.
Tatsächlich versprechen die makroökonomischen Zahlen zum ersten Mal seit Jahren so etwas wie Hoffnung auf Erholung der strauchelnden Wirtschaft. So ist die Arbeitslosenrate laut Angaben der Regierung auf 13,4 Prozent gesunken, die Exporte steigen, das Haushaltsdefizit konnte auf 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verringert werden. Im Mai 2014 verließ Portugal den EU-Rettungsschirm, am Kapitalmarkt kann sich das Land mittlerweile wieder selbst refinanzieren. Und auch die Wirtschaft ist letztes Jahr zum ersten Mal seit Ausbruch der Krise wieder gewachsen - wenn auch nur um knapp ein Prozent. Vor allem der boomende Tourismus dient derzeit als Wachstumsmotor und als Zukunftshoffnung.
Erfolgsgeschichte der europäischen Austeritätspolitik?
Portugal als Erfolgsgeschichte der europäischen Austeritätspolitik? "Sicher nicht", fällt Ana Drago bereits bei der Frage ins Wort. Die 39-Jährige sitzt seit 2002 als Abgeordnete im Parlament, bis letztes Jahr für den Bloco de Esquerda, nun hat sie sich der neuen Bewegung Livre angeschlossen, eine links-ökologische proeuropäische Partei, die im Herbst erstmals bei den Parlamentswahlen antreten wird. Am Rande einer Diskussionsveranstaltung über die Auswirkungen der Griechenlandkrise auf Portugal übt sie scharfe Kritik an der Austeritätspolitik in Portugal: "Die Arbeitslosigkeit ist massiv gestiegen, genauso wie die Ungleichheit. Hunderttausende gut ausgebildete junge Menschen, unser Zukunfts-Investment der letzten dreißig Jahre, sind ins Ausland gegangen. Wir haben immer noch keine Aussicht auf Besserung. Unsere Wirtschaft ist um sechs Prozent geschrumpft und die Schulden trotzdem so hoch wie nie." Austerität, sagt sie, funktioniert nicht. "Ich glaube nicht, dass die Rechte in Europa dumm ist. Jeder sieht, dass die Politik der letzten Jahre das Problem nicht löst. Aber es gibt dieses Narrativ, dass wir trotz allem weitermachen müssen, ganz nach dem Motto: Ihr steckt in einem Loch, also grabt weiter!"
In Europa aber wird eine andere Geschichte erzählt. Gerade angesichts der dramatischen Entwicklungen um Griechenland soll mit Verweis auf Portugal der eingeschlagene Weg des Sparens als Ausweg aus der Krise verkauft werden. Sieht man die Eurzone als große Familie, dann ist Griechenland das schwarze Schaf und Portugal der Musterschüler. Dabei steht das ärmste Land Westeuropas trotz der Anstrengungen der vergangenen Jahre immer noch vor immensen Problemen. Die Gesamtverschuldung des Staats, der Unternehmen und der privaten Haushalte ist die höchste der Eurozone. Die Staatsverschuldung ist seit Beginn der Krise trotz der Sparprogramme außerdem stetig angestiegen, von 111 Prozent des BIP im Jahr 2011 auf 130 Prozent 2014.
Neben den finanziellen Problemen machen Portugal eine Vielzahl struktureller Probleme zu schaffen. Es hat die geringste Fertilitätsrate innerhalb der Europäischen Union, seit der Beginn der Krise hat sich der Negativtrend rasant verstärkt. Die Produktivität und das Qualifikationsniveau der Bevölkerung sind gering, die Exportwirtschaft ist trotz leicht positiver Entwicklung schwach, die Kaufkraft der Portugiesen niedrig. Die Aufschwungsrethorik der Regierung ist vor diesem Hintergrund mit Vorsicht zu genießen. So ist beispielsweise die gesunkene Arbeitslosenrate eher statistischen Tricks geschuldet, sie kommt durch Fortbildungsprogramme und die massive Emigration zustande.
EPA/JOSE SENA GOULAO
Kein politisches Erdbeben
Dennoch deutet wenig darauf hin, dass es in Portugal im Herbst ein ähnliches politisches Erdbeben geben könnte, wie in Griechenland mit dem Erfolg von Syriza. Laut Umfragen liegen die derzeit oppositionellen Sozialisten in Führung. Je näher die Wahlen rücken, desto stärker sprechen sie sich gegen den Sparkurs aus. Die regierenden Sozialdemokraten (der Name täuscht, die Regierungspartei ist eher eine Mischung zwischen deutscher FDP und ÖVP) können trotz der Sparpolitik aber weiterhin mit einer breiten Unterstützung rechnen.
Von einem Kollaps des etablierten Parteiensystems, wie in anderen Krisenländern wie Griechenland und möglicherweise Spanien, ist in Portugal nichts zu merken. "Es fehlt in Portugal an einer politischen Kultur, an einer starken organisierten Bewegung auf der Straße, die so etwas wie beispielsweise Podemos in Spanien hervorbringen könnte", sagt Parlamentarierin Ana Drago. Sie hofft dennoch darauf, dass ihre Partei zusammen mit anderen linken Kräften und den Sozialisten ("keine echten Sozialisten", fügt sie hinzu) eine Alternative zur Austeritätspolitik anstoßen kann.
Hat sie Angst, dass Portugal dann dasselbe Schicksal wie Griechenland blüht? "Natürlich habe ich die. Zum ersten Mal wurde klar, dass Deutschland und andere Euro-Länder wollen, dass Griechenland die gemeinsame Währung verlässt. Und dass Portugal, wenn die Dinge falsch laufen, folgen könnte. Vor allem die Linke versteht gerade, dass sie sich darauf vorbereiten muss. Aber wenn sie uns vor die Wahl stellen zwischen unserer Demokratie und dem Euro, dann werden wir uns für die Demokratie entscheiden."