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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

15. 7. 2015 - 14:34

Jetzt neu: der Lexit

Vor lauter Abscheu über die Behandlung Griechenlands ruft Owen Jones den Abschied der vormals so euro-loyalen britischen Linken von der EU aus. Macht sein "Lexit" den Brexit wahrscheinlicher?

Jetzt haben sie's also geschafft. Seit den 1980ern war die britische Linke im europäischen Vergleich die treueste Befürworterin der EU. Das soziale Europa, ein Versprechen der Ära Delors, sah man als Gegenpol zum gewerkschaftsfeindlichen Thatcherismus, die kollektive Vernunft der Sozialpartnerschaft geisterte bis zuletzt als geschöntes kontinentales Idyll durch die Utopien britischer Sozialdemokrat_innen.

Die Labour-Fraktion stand bisher praktisch geschlossen hinter einem Ja bei der für 2017 oder gar 2016 angekündigten Volksabstimmung - abgesehen von ein paar verstreuten Ausläufern des rechten Parteiflügels, wo man aus Angst vor UKIP am liebsten deren gesamtes Programm übernehmen würde.

Ansonsten war die EU das eine Thema, auf das sich sogar Hardcore-Blairist_innen noch mit dem linken Flügel der Partei einigen konnten.

In den letzten Wochen, wo sich eindeutig abzeichnete, dass David Cameron seine groß angekündigten Neuverhandlungen mit der EU in jedem Fall als großen Erfolg feiern wird, schien sich die aktive Brexit-Fraktion auf die rechte Boulevard-Presse, den rechten Rand der Tories und eben UKIP zu beschränken.

Aber das war gestern.

Eine Rezension des Buches "Prolls" von Oliver Jones und ein Interview mit dem Autor von Zita Bereuter und Rainer Springenschmid gibt es hier.

Heute hat Owen Jones (der Autor der Bücher "Chavs", "The Establishment" und eine wichtige Stimme in der jungen britischen Linken) im Guardian eine potenziell folgenreiche Kolumne veröffentlicht, die ausspricht, was seit den "Verhandlungen" in Brüssel rund um Griechenland immer eindeutiger in der Luft liegt:

Er nennt es den "Lexit", eine neue linke Euroskepsis, die den Kontakt der Linken zu ihrer alten proletarischen Basis wiederherstellt, indem sie sich gegen die Brüsseler Austeritätsdiktatur stellt. Bis hin zum Austritt aus der EU.

"David Cameron", schreibt Jones, "schlägt nun eine Neuverhandlung vor, die viele der verbleibenden 'guten Teile' der EU abbauen wird, insbesondere durch einen Austritt vom europäischen Arbeitsschutzgesetz.
Doch er muss sich in seiner Kampagne auf die Unterstützung der Linken für ein Paket verlassen, das den Verbleib in einer zunehmend konzernfreundlichen EU minus der arbeiter_innenfreundlichen Beigaben bedeutet. Können wir das ehrlich unterstützen?"

Natürlich nicht.

Alles, was Jones da herunterbetet, von TTIP über Zwangsprivatisierung bis zur hegemonialen Macht eines austeritätsbesessenen Deutschland existiert real und lässt sich mit keiner Vorstellung einer "linken" Vision vereinbaren, wie immer man diese heute definieren mag.

Selbst das Problem, dass ein Lexit den pro-europäischen Verbündeten in Spanien und Griechenland in den Rücken fallen würde, hat Jones mitbedacht:

"Lexit mag als ein Betrug der Solidarität mit der Linken in der EU ausgelegt werden: Syriza und Podemos versuchen schließlich, die Institution zu verändern, nicht sie zu verlassen. Syrizas Erfahrung illustriert, wie aussichtslos diese Sache ist. Aber in jedem Fall würde die Drohung des Brexit ihnen helfen.

Deutschland hat wenig Anreiz, seinen Kurs zu wechseln. Es profitiert enorm von den derzeitigen Arrangements. Wenn es so aussieht, dass sein Verhalten das Zerbrechen der EU verursacht, wird das die Hand derer stärken, die sich gegen den Status Quo auflehnen."

Mann mit Podemos-Tasche

Robert Rotifer

Ein spanischer Podemos-Unterstützer heute morgen in der Londoner Underground

Nun vermisse ich in Owen Jones' Strategie ja die progressive Perspektive.

Selbst nach einem vom Lexit befeuerten Brexit würden linke Brit_innen in einer Welt der globalen Finanzmacht aufwachen, der man durch einen Austritt aus der EU jetzt auch nicht davonrennen kann.

Das ist eine Fantasie, an die nur verbohrte Nationalist_innen glauben können.

Jones kritisiert das undemokratische, rabiat neoliberale Europa bezeichnenderweise just an dem Tag, da die Regierung Cameron die härtesten Anti-Streikgesetze seit Thatchers Zeiten vorbereitet.

Seine Behauptung, die eigene Abwendung von der EU würde den Gleich- oder Ähnlichgesinnten innerhalb der EU helfen, reproduziert wiederum auf deprimierende Weise die britische Unfähigkeit zur kühnen Vorstellung, sich in Europa als konstruktiver Mitgestalter einzubringen.

Die Idee, von der Labour-Fraktion oder den britischen Greens in Brüssel zu verlangen, aktiv eine Hand in Richtung Syriza oder Podemos auszustrecken und europäische Koalitionen für einen alternativen Kurs, also ein Gegenmodell zu dem von Camerons Reform anzustreben, kommt ihm gar nicht erst.

Was mir außerdem noch abgeht, ist der geringste Bezug auf…

1) die ungefähr zweieinhalb Millionen EU-Bürger_innen in Großbritannien wie meinereins, und was mit sich vielleicht mit denen zusammen aufstellen ließe (ein der britischen Linken scheinbar völlig fremder Gedanke).

2) die bisher dezidiert pro-europäischen Schotten (allen voran die SNP), die in Brüssel immer noch ein Gegengewicht zur alles beherrschenden Finanzmacht der City in London sehen.

Aber davon abgesehen hat Jones' Haltung eine mögliche Bedeutung, die über die sonstige Machtlosigkeit der britischen Linken weit hinausgeht.

Aus welchen Gründen jemand eine Nein-Stimme abgibt, ob zum Ausdruck eines gegen den neoliberalen Konsens in Brüssel gerichteten Lexit oder eines chauvinistisch motivierten Brexit von rechts, wird bei der Abstimmung nämlich keine Rolle spielen.

Man darf nicht vergessen, dass Camerons Konservative, in der Frage Europa ohnehin bestenfalls gespalten, bei den Unterhauswahlen nur 25 Prozent aller Wahlberechtigten hinter sich hatten. Und dass die Liberaldemokrat_innen als pro-europäische Kraft in England beinahe verschwunden sind.

Wenn die EU nun dank ihres unerbittlichen Verhaltens gegenüber Griechenland ihre treusten Freund_innen in der britischen Linken endgültig verloren haben und sich in der Folge auch das Votum der Labour-Anhängerschaft entzweien sollte, dann rückt ein britisches Nein zur EU-Mitgliedschaft in greifbare Nähe.

In ihrem derzeitigen Zustand – ohne Aussicht auf Besserung – fragt sich, ob die EU so einen Schlag überstehen würde.