Erstellt am: 15. 7. 2015 - 15:51 Uhr
The daily Blumenau. Wednesday Edition, 15-07-15.
#demokratiepolitik #machtpolitik
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
Siehe dazu auch: Niemand profitiert! Stephan Schulmeister zum neuen Griechenland-Programm.
Jetzt ist sie abgeklungen, die Aufregung. Griechenland ist nicht mehr Schlagzeilen-Leader, der Streit mit den EU-Mächtigen nimmer öffentlicher Empörungs-Faktor Nummer 1 - Iran, Asyl, Kickl und Pluto sind gleichauf.
Und, immerhin: die in nationalistische Wallungen hochgepitchte, unangenehm schrille Sportberichterstattungs-Tonlage lässt nach, der Sound normalisiert sich. Die Mainstream-Presse entfernt sich von Campaigning-Wahn und beginnt zu differenzieren, da wie dort und sogar da. Und - wenig zufällig - im Feuilleton und - mit wenigen Ausnahmen - nicht im Polit-Kommentar oder gar im Wirtschaftsteil.
Es ist dieser Tage auch wieder möglich einen bürgerlichen Wirtschaftsexperten, der in Sachen Griechenland einen differenzierten Ansatz hat zu interviewen ohne dass nzz.at-Fleischhacker der Schaum aus dem Twitter-Account läuft. Es ist sogar wieder möglich den Zynismus mit dem die Theorie der schwäbische Hausfrau vertreten wird, anzusprechen. Das war nur in den entscheidenden Tagen, in den Griechenland durch die Bündelung aller Mittel (auch einer impliziten Mediengleichschaltung in Rest-Europa) an die Kandare genommen werden musste, quasi-verboten. Jetzt, wo das für die Institutionen genehme Resultat erzielt wurde, darf wieder diskutiert werden. Auch in scharfen Worten.
Meine These zu Tsipras-Varoufakis ist eine Good/Bad-Cop-Variante. Der Wirtschaftprofessor bekam, so denke ich, eine Kurz-Mission auf Zeit übertragen, sollte Denkstaub aufwirbeln und den ideologischen Überbau der Gesamt-Aktion klarmachen, ehe er dann als Bauernopfer abdankt. Das ist immerhin partiell gelungen.
Mancherorts wird sogar die klischeetriefende Rollenzuteilung, die Yanis Varoufakis widerfahren ist, überdacht. Und plötzlich stehen seine Thesen im Fokus - der davor von offenem Hemd und Maschin überdeckt wurde.
Das alles (die ökonomische Sicht, die aktuelle politische Deutung) wird von vielen schlauen Analysten vielerorts kundig abgehandelt. Was die letzten Tage, was der Kampf zwischen EU-Establishment (im Besonderen die Freunde des Fördervereins der schwäbischen Hausfrau, die Austeritäts-Fans) und griechischem Widerstand und sein (vorläufiger) Ausgang für die politische Zukunft des Kontinents bedeuten, geht dagegen ein wenig unter. Denn hier, in dieser Schlacht wurde eine historische Weiche gestellt, die deutlich nachhaltigere Wirkung haben wird als etwa der Kompromiss, der im Palais Coburg erzielt wurde.
Die Auswirkungen, die die Frontenstellungen auch für z.B. das kleine Österreich hat, sind hier in einer Analyse der SP-internen DenkTank-Gruppe Sektion 8 gut zusammengefasst.
Den weiten Blick aufs große Ganze riskieren nur wenige. Slavoj Žižek etwa, hier in einem wuchtigen Essay in der Zeit. Dabei basiert sein Text auf klassischen Säulen; wie der, dass die angebliche Ideologielosigkeit der Institutionen deshalb die radikalste aller Ideologien ist. Žižek belegt auch, dass der gern als ultraradikal diffamierte Syriza-style im Vergleich etwa zur alten wohlfahrtsstaatlichen Sozialdemokratie unter Palme in Schweden harmlos sei.
Und nur der (von heutigen europäischen Sozialdemokraten, die nur noch jammervolle Parodien ihrer Vorgänger sind, so bezeichnete) ketzerischer Ansatz, "kann retten, was am europäischen Erbe der Rettung wert ist: die Demokratie, das Vertrauen in die Menschen, die egalitäre Solidarität. Das Europa, das gewinnen wird, wenn es gelingt, Syriza auszubremsen, ist ein 'Europa der asiatischen Werte', was (...) zu tun mit der Tendenz des zeitgenössischen Kapitalismus, die Demokratie auszuhebeln."
Die Wunschvorstellung der Austeritärer ist ein Kapitalismus, wie er in den Tigerstaaten erfunden wurde und mittlerweile globale Kreise zieht. Im Ursprungsland Singapur ordnet sich die Gesellschaft dem turbohaften Neoliberalismus sowie einem gewählten, das Leben stark reglementierenden, autoritären Regime unter. Klingt wie das Ideal vieler nationalistischer und rechtspopulistischer Europäer.
Eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der 60er bis 80er, einer Zeit in der Europa sowohl ökonomisch als auch demokratiepolitisch, vor allem aber sozial ein zuvor nicht gekanntes Level erreicht hatte, ist nicht mehr möglich: die Gier des wachstumsgeilen Raubtier-Kapitalismus hat das System unwiderbringlich zerstört.
Der aktuelle Treppenwitz zu dieser Entwicklung ist, dass sie das kleinere Übel darstellt. Und dass die wenigen politischen Köpfe, die sich damit auseinandersetzen (und das sind auf höchster Ebene letztlich nur Tsipras-Varoufakis) das Schicksal ihrer Nationalstaaten der europäischen Idee unterordnen.
Und dann zitiert Zizek einen Varoufakis (aus dem Guardian), der den (nicht gewollten) worst case durchdekliniert: "Ein griechischer oder ein portugiesischer oder ein italienischer Austritt aus der Euro-Zone würde bald zu einem Zerbrechen des europäischen Kapitalismus führen. Die Folge wäre eine ernsthaft rezessionsgefährdete Überschussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während das restliche Europa in einer brutalen Stagflation versänke. Wer würde wohl von dieser Entwicklung profitieren? Eine progressive Linke, die sich in den öffentlichen Institutionen Europas wie ein Phönix aus der Asche erhebt? Oder die Nazis der Goldenen Morgenröte, die diversen neofaschistischen Bewegungen, Fremdenfeinde und Ganoven? Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, wer von beiden am meisten von einem Zerfall der Euro-Zone profitieren würde."
Die wirklich Radikalen befürworten eine solche Zerschlagung/Zerstörung, sehen in einem möglichen/wahrscheinlichen Zerfall Europa in drei Zonen (Tigerkapitalismus im Norden, linke Utopie im Südwesten, xenophobe Nationalisten im Südosten) eine Chance einer Re-Ideologisierung und demokratiepolitischen Gesundung. Trotz höchstem Risiko.
Varoufakis hingegen ist Pragmatiker: "Wenn das bedeutet, dass wir, die angemessen unberechenbaren Marxisten, es sind, die versuchen müssen, den europäischen Kapitalismus vor sich selbst zu retten, dann sei’s drum. Nicht aus Liebe zum europäischen Kapitalismus, zur Euro-Zone, zu Brüssel oder zur Europäischen Zentralbank, sondern allein deshalb, weil wir die unnötigen menschlichen Kosten dieser Krise minimieren wollen."
Die durch Tsipras' Einlenken erzielte Einigung ist ein Schritt in diese Richtung. Und letztlich eine Niederlage des Schäuble-Lagers, das die angesprochenen Südländer aus der Euro-Zone und damit in die politische Radikalität drängen möchte. Wie gesagt: dass dieser humanistische Pragmatismus von der Syriza und gegen den Willen der christlichen Europa-Parteien kommt, kartografiert die politischen Lager neu. So ergibt die Sektion 8-Analyse neuen Sinn. Und die dort erwähnte radikale Mitte, die Austerität als Religionsersatz sieht, wird sich mit Freuden einem Tigerstaaten-Kapitalismus unterwerfen. Singapur eben. Mitten in Europa.