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Johanna Jaufer

Revival of the fittest... aber das war noch nicht alles.

7. 7. 2015 - 18:21

Tage wie diese

Athen vor, während und nach der griechischen Volksabstimmung. Momentaufnahmen jenseits der Headlines.

Ein spontaner, leistbarer Flug nach Athen war am Freitag schwer zu bekommen. Nicht nur Semesterende und Ferienbeginn, auch das griechische Referendum über die EU-Sparvorschläge füllt die Sitzreihen im Flugzeug nach Athen. Ringsum diskutieren Expat-GriechInnen über die bevorstehende Volksabstimmung. Eine von ihnen ist Helene. Die Dolmetscherin und Lehrerin hat vor vielen Jahren einen Franzosen geheiratet und lebt jetzt in Brüssel. Für sie steht außer Frage, dass die Zukunft Europas auf dem Spiel steht: quer durch Europa verlassen gut ausgebildete Junge ihre Heimat in den südlichen Euroländern, wo die Krise die Arbeitslosigkeit in schwindelnde Höhen getrieben hat. Auch mehr als 150.000 junge GriechInnen leben mittlerweile im Ausland. Nicht alle können sich den Flug nach Hause leisten.

Apren nonstop

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Meine Sitznachbarin im Flugzeug lacht, als sie die Broschüre der Fluglinie sieht... "Ironically, I can relate to that"

Vorher

Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras hatte in der Nacht auf Samstag, den 27. Juni, nach gescheiterten Verhandlungen mit der EU-Troika ein Referendum über die letzten Vorschläge der Gläubiger angekündigt. Ab diesem für viele unvermuteten Schachzug (der aber von Regierungsmitgliedern wiederholt als Option in den Raum gestellt worden war) war es polit-medial Schlag auf Schlag gegangen: Zuerst hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker "in the interest of transparency" ein "Last-Minute-Angebot" an Griechenland veröffentlicht. Der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sprach davon, dass im neuen Paket "soziale Härten abgefedert" werden. EU-Parlaments-Präsident Martin Schulz erklärte im ZDF - ohne kritische Nachfrage durch die Interviewführenden -, dass das neue Papier keine Mehrwertsteuererhöhungen und keine weiteren Pensionskürzungen enthält. Beides stellte sich als unzutreffend heraus. Der griechische Finanzminister Varoufakis sei jedenfalls ein "Spaßhansel", Premier Tsipras ein "Vollpfosten", vermelden SPD- und CDU-Vertreter. Dass Schulz sich neben einem "Ja" für die Troika-Vorschläge in der Folge eine technokratische Übergangsregierung wünscht (Oppositionsvertreter Stavros Theodorakis - seine liberale "To Potami" hatte bei den Parlamentswahlen im Jänner 6 Prozent bekommen - war noch während die Verhandlungen liefen in Brüssel, um ranghohe Vertreter der EU-Kommission zu treffen, siehe hier und hier) hat er nach einer dementsprechenden Veröffentlichung der Presseagentur AP bestritten.

Ubahn

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Ankunft in Athen: die Metro ist seit ein paar Tagen gratis. Die Maßnahme soll die finanzschwache Bevölkerung im Alltag entlasten.

Im Tags darauf erscheinenden ausführlichen Interview mit dem Handelsblatt (abrufbar hier) spricht Martin Schulz allerdings erneut von einer "technischen Regierung", die nach einem "Ja" am Sonntag die Verhandlungen übernehmen sollte. Als die Europäische Zentralbank kurz vor/bei Auslaufen des EU-Kreditprogramms die Notfallshilfen für griechische Banken beschränkt hatte, musste Griechenland Kapitalverkehrskontrollen (Abhebelimit am Bankomaten: 60 Euro) und Bankfeiertage anordnen: PensionistInnen fürchten um ihr weniges Geld, Unsicherheit macht sich breit und das "Nein" zu den EU-Vorschlägen wird laut Umfragen unwahrscheinlicher. Zu möglichen Konsequenzen eines "Nein" hört man in weiterer Folge Unterschiedliches aus Europa: ein "Nein" würde das Ende von Verhandlungen, zwangsläufig den Euroaustritt bedeuten (Deutschlands Vizekanzler Sigmar Gabriel, SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel andererseits will sich weiteren Verhandlungen in so einem Fall "nicht verschließen" (beides siehe hier). Zwingen kann die Griechen jedenfalls formal-juristisch keiner zum Verlassen der Eurozone, auch fragt das Referendum nicht danach, sondern nach Zustimmung oder Ablehnung, was die Reformvorstellungen der Europartner betrifft.

Im Flugzeug nach Athen bestätigt Helene das - wenn die Sparpolitik mit dem einzig verfügbaren Angebot der Gläubiger nicht beendet werden kann (wie es das zentrale Wahlversprechen der jetzt amtierenden Regierung vorsah), müsse diese Regierung eben die Bevölkerung bitten, sich dafür oder dagegen (und damit für ein gestärktes Verhandlungs-Mandat der Regierung, aber schwierigere Gespräche tags darauf) zu entscheiden.

Die letzten Tage vor der Abstimmung sind in Athen geprägt von großen Kampagnen der beiden Lager, Demonstrationen für "NAI"/Ja und "OXI"/Nein finden statt und die Schlusskundgebung von Alexis Tsipras, der die Bevölkerung aufruft, der Regierung mit einem "OXI" den Rücken zu stärken, wird von Zehntausenden besucht. Dass der Internationale Währungsfonds sich im Unterschied zu vorherigen Statements mit einem aktuellen Bericht offen gegen die Haltung der EU, die Schuldenerlass oder -umstrukturierung scharf ablehnt, stellt, heizt die Diskussion zusätzlich an.

Auf der Straße

In Athen spürt man von all dem nichts - zumindest fast nicht. Die meisten auf der Straße Angesprochenen geben zu Protokoll, dass sie den Ausnahmezustand ohnehin gewohnt sind und bei weitem nicht genug Geld am Konto hätten, um überhaupt an Bankomat-Behebungen jenseits der 60-Euro-Marke zu denken. Dennoch: geschlossene Banken und Kapitalverkehrskontrollen bedrohen die Wirtschaft (Reisebuchungen werden storniert und es wird von ersten Nachschubproblemen auf Inseln berichtet, die vom Tourismus leben) und verängstigen PensionistInnen, die fürchten, bald gar nichts mehr abheben zu können. Griechische Medien sind zu großen Teilen in oppositionsnahen Händen. Dass die meisten Sender nie Lizenzgebühren bezahlt und hohe Steuerschulden haben, deren Eintreibung für sie zu befürchten steht, ist Mitgrund für die einseitige Berichterstatttung in Radio und TV.

Fernsehen

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Erste Hochrechnungen Sonntag abend

Der Abend

Der Tag des Referendums geht ruhig über die Bühne. Bis 19:00 kann abgestimmt werden, am frühen Abend erscheinen die ersten Hochrechnungen und prognostizieren wie von den meisten erwartet ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen "NAI" und "OXI". Kurz darauf wendet sich das Blatt und der Rest wird laut Neo-Finanzminister Euclid Tsakalotos in die "economic history" eingehen: 61 Prozent der GriechInnen erteilen den Sparvorschlägen der EU eine Absage. Am Syntagma-Platz jubeln Tausende, Parlaments-Präsidentin Zoe Konstantopoulou lässt sich von der Menge feiern.

OXI days are back again

Montag früh tritt Finanzminister Yanis Varoufakis ab. Offiziell wegen des zerrütteten Gesprächsklimas zwischen Gläubigern und Griechenland. Inoffiziell aus mindestens einer Handvoll anderer Gründe, deren Wahrheitsgehalt sich jedoch im Augenblick nicht beleuchten ließe, ohne auf "unnamed sources" zurückzugreifen, wie sie die letzten Monate über die Berichterstattung durchzogen haben - mit oft geringer Trefferquote.

Oppositionschef Antonis Samaras legt sein Amt ebenfalls nieder. Vor den Wahlen im Jänner 2015 war er Premierminister - und bis zuletzt Chef der konservativen Nea Dimokratia. Schon unter Samaras' Regierungsführung, seit August 2014, hatte Athen keine Gelder mehr aus den EU-Kreditpaketen erhalten. Neuer Finanzminister Griechenlands wird Euclid Tsakalotos, der bisherige griechische Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit der EU-Troika. Tsakalotos ist wie Varoufakis Wirtschaftsprofessor. Er sitzt seit 2012 für SYRIZA im Parlament und hat viele Jahre lang in England gelebt. In seinem Buch "Crucible of Resistance: Greece, the Eurozone and the World Economic Crisis" (mehr Einblicke zu Tsakalotos' wirtschaftspolitischen Vorstellungen hier) beleuchtet er die Entstehung der Krise, den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie, zunehmende Ungleichheit und die seiner Ansicht nach unbedingte Notwendigkeit, die Leidtragenden der Krise für einen grundsätzlichen Richtungswechsel zu mobilisieren. Tsakalotos' Biographie verdichtet die politischen Gegensätze Griechenlands wie unter einem Brennglas: Zu seinen Vorfahren zählt Thrasyvoulos Tsakalotos, Offizier in beiden Weltkriegen und im griechischen Bürgerkrieg. Euclid Tsakalotos gilt als höflich, aber bestimmt und entgegen anderslautender Meldungen als in der Sache keineswegs dienstbötiger als sein Vorgänger Yanis Varoufakis.

The beat goes on

Griechenland müsse neue Vorschläge machen, heißt es von Gläubiger-Seite kurz nach dem Personalwechsel in Alexis Tsipras' Kabinett. Im folgenden eilig einberufenen Eurogruppen-Meeting (wo sich die Finanzminister der Eurostaaten "informell" treffen) habe er "keine konkreten neuen Vorschläge" eingebracht. Nach einem anschließenden Treffen der Euro-Staatschefs werde morgen per Telefonkonferenz über Griechenlands Antrag auf neue Hilfen aus dem Euro-"Rettungsschirm" ESM beraten; die Banken bleiben bis auf weiteres geschlossen. Ein Schuldenerlass sei aber nach wie vor nicht angedacht, verlauten mehrere Euro-Finanzminister. Lettlands Finanzminister Jānis Reirs hält schließlich fest, "Die Menschen in Lettland verstehen die Griechen nicht".

Am Athener Exarchia-Platz sitzt Eleni. Die Endzwanzigerin arbeitet für 400 Euro pro Monat in einem Callcenter. Sie winkt lachend ab, als ich ihr von den letzten Entwicklungen am politischen Parkett erzähle. Es sei viel wichtiger, darüber nachzudenken, was zur Dauerkrise geführt habe und wie sie die Zukunft junger Menschen europaweit bedrohe. Ob Meldungen wie diese blutdruckschonend zur Meinungsbildung beitragen, sodass "die Menschen" in Lettland "die Griechen" verstehen und umgekehrt, muss bezweifelt werden. Eine Branche, die Horden FotografInnen zur Bankomat-Beschau abkommandiert, während die seit Jahren alltäglichen Schlangen vor dem Arbeitsamt in Fußnoten auftauchen, ist jedenfalls eher teilnehmend als Beobachterin des Geschehens.