Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Nervöse Musik, nervige Musik"

Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

6. 7. 2015 - 16:03

Nervöse Musik, nervige Musik

Aufrütteln, durchschütteln, aufrühren, der gute, alte Eklektizismus und die Politik. Das englische Quartett Everything Everything hat ein neues Album veröffentlicht. Der FM4 Artist of the Week.

"Get to Heaven"

Rca Int

"Get to Heaven" von Everything Everything ist bei Rca Int./Sony erschienen

Problem, Problem. Krise, Revolution, Umbruch, Terror, Explosion. "Get To Heaven" hat das englische Quartett Everything Everything ihr gerade erschienenes, drittes Album genannt – der Weg scheint das Ziel, es kann nicht schnell genug gehen. Den Unmut, die Politik und einen oft mal vielleicht auch bloß diffusen widerständischen Geist in eine Platte prügeln, wissen, dass es stinkt und brennt auf der Welt, auch vier weiße mittelständische Boys aus Manchester dürfen das und müssen das.

Die Faust recken und nebulöse Bilder von einer irgendgearteten Revolution beschwören. Auf "Get To Heaven" ruckelt und rumpelt es, es wimmelt vor Blut, Pistolen, Krieg und Feuer. Alles ist vergiftet. Auf ihrem 2010 erschienenen Debütalbum "Man Alive" waren Everything Everything noch kreuzsolide Neo-Postpunk-Wiedergänger, denen wohl eher Bloc Party denn die Gang of Four die Vorbilder gewesen sein dürften, über Liebe wurde seinerzeit, wie in dem Hit "Suffragette Suffragette", beispielsweise so gesungen: "Who's gonna sit on your face when I'm gone?". Ein glühendes Bekenntnis zum ewigen Zusammenhalt. Vielleicht heißt es aber doch auch bloß, etwas langweiliger, "fence".

Everything Everything

Everything Everything

"Arc", das zweite Album aus dem Jahr 2013, hat dann vieles viel richtiger gemacht, man erweiterte das Spektrum, wie es sich eben so gehört, und schaute nach was im Internet so blubbert und brummt. Zwar hasteten Everything Everything auch mit dieser Platte den Moden hinterher, ihre Eingemeindung von sogenannten Weltmusiken, von Jazz, Afropop und Afrobeat in ihren nervösen, hakenschlagenden Gitarrenrock männlicher Zicken zeitigte dann eben schon einiges an wunderlichen, wunderbaren Songs.

Für "Get to Heaven" haben Everything Everything jetzt alles zusammengschreddert was die Müllhalde der Popmusik hergibt. Digital-Schrott und Zucker-R'n'B, verstolperte Annäherungsversuche an HipHop, Prog-Pop, Art-Rock. Abzählreime, kosmisches Summen, endzeitgebeutelten Posthardcore und in höchster Verkrampfung aus den Instrumenten gestreberten Mathrock. Man muss ja nicht gleich sagen: Everything Everything.

Alles eingedampft, runterdestilliert und hochkonzentriert in muskulöse Popsongs gegossen, die so schlank und, ja, dringlich daherkommen, wie kaum nur irgendwas. Wow, ist das anstrengend, was fällt jetzt hinter der nächsten Ecke wieder für eine Werkzeugregal um?

Aber Pop ist "Get to Heaven" eben auch, da liegt die Stärke der Platte: Höchste Anstrengung, ein Aufschürfen an den Bedingungen einer blöden Welt, Lieder über Angst, Paranoia und die tägliche Tracht Prügel, ständige Reizüberforderung und die süßlichsten Melodien, die feinsten Hooks und die tanzbarsten Beats kommen zusammen. Am Studiomischpult ist Über-Producer Stuart Price gesessen, der üblicherweise, wenn er nicht gerade mit seiner Band Zoot Woman den Glam, die Dekadenz und die Verzweiflung der 80er nachstellt, Menschen wie Madonna, Kylie oder den Killers Sahne-Schnitten bereitet. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Texte, die aus der Sicht eines Selbstmordattentäters erzählt sein dürften, Text über Müll, Texte über die normale Ausgrenzung.

Frontmann Jonathan Higgs mutet dabei mit seinem steil durch die Gegend torkelnden Falsett nicht selten wie Chris Martin beim wahlweise Glas-Zersingen oder Kinder-Erschrecken an. Hört ihr die Signale? Wenn dann gegen Ende der Platte, im Stück "No Reptiles", solch traurige Zeilen wie “Oh Baby it’s all right to feel like a fat child in a push chair/ Old enough to run/ Old enough to fire a gun” über prächtig zwitscherndem Synthesizer als einer der versöhnlichsten Popmomente der jüngeren Popvergangenheit erklingen, dann weiß man, dass hier etwas nicht stimmt, dass hier etwas stimmt. Es ist die Musik zur Zeit, nicht immer ist sie schön. Man darf skandieren, wieder einmal: Macht verrückt, was euch verrückt macht. Alles wird in Flammen stehen.