Erstellt am: 4. 7. 2015 - 21:00 Uhr
Mitternachtssonne und ewiges Eis
FM4 Festivalradio
Alles rund um Festivals im In- und Ausland. Und alle Termine gibts hier
Seit Jahr und Tag erzählt mir Susi Ondrusova Geschichten vom All Tomorrows Parties Festival, das sich total von den großen kommerziellen Festivals dieser Welt unterscheidet. In meiner Vorstellung entsteht ein Traum-Festival, das liebevoll von Musikern, Comiczeichnern wie Simpsons-Erfinder Matt Groening oder Künstlern kuratiert wird, das in einem kleinen Ort stattfindet, der sich für wenige Tage in eine Mischung aus Kommune, Indie-Kibbuz und 24hour-Party-People-Paradies verwandelt. Man wohnt mit seinen Liebsten in einem schnuckeligen 1970er-Jahre-Design-Juwel-Appartement oder mietet sich mit seiner Bande ein Chalet. Gehen die Eiswürfel, das Trüffel-Öl oder die Papers aus, klopft man an der Nachbars-Tür und Buzz Osborne oder Peaches öffnen, helfen gerne aus und kommen vielleicht später sogar auf ein Gläschen Chateau Latour und eine Partie Uno vorbei. Ist man der musikalischen Highlights überdrüssig, geht man am Strand Muschelsammeln, wo man vielleicht William Fitzsimmons oder John Maus trifft, die einem ihre neuen Gedichte vortragen oder in spannende Diskussionen über Psychoanalyse und Poststrukturalismus verwickeln. Vielleicht gibt es auch ein Pier mit Riesenrad und Lunapark.
ATP
Ab nach Island
ATP
Als das Line Up und der Austragungsort des ATP Island bekannt gegeben wurde, war ich sofort dabei. Der Austragungsort ist eine ehemalige U-Boot-Werft! Wieso braucht das friedliche Island, in dem die Polizei keine Waffen trägt und in dem es im Schnitt 0,3 bis 0,7 Morde im Jahr gibt, eine U-Boot-Werft? Der Grund dafür liegt im Zweiten Weltkrieg und die U-Boot-Werft war amerikanisch.
Das Line Up mit unter anderem Iggy Pop, Public Enemy oder Run The Jewels, der Austragungsort und die Mitternachtssonne versprechen ein unvergessliches Wochenende. Das dachte ich mir, als ich eine halbe Stunde nach Beginn des Konzerts von Public Enemy am Steuer meines Leihwagens immer noch orientierungslos durch eine mit Lagerhallen bebaute Küstengegend fuhr. Wir hatten beim Ankommen am Flughafen zwar Belle and Sebastian gesehen, aber seitdem sonst keinen einzigen Hinweis auf das ATP. Laut Navi waren wir nur sechs Minuten entfernt. Endlich kam eine rote Lagerhalle ins Sichtfeld, vor der für isländische Verhältnisse viele Autos geparkt waren.
Natalie Brunner
Aus der Halle strömten Menschen, junge Menschen, noch immer keine Schilder und schon gar keine Werbung oder Sponsoren-Logos. Habe ich schon erwähnt, wie angenehm es ist, in einer von optischer Umweltverschmutzung freien Zone zu sein? Dafür bin ich auch bereit, mehr zu zahlen.
Natalie Brunner
Problem- und schlangenlos bekommen wir unsere Bändchen und können in das Festivalgelände, welches aus Halle und Vorhof besteht. Drei lokale Fressbuden, keine Stände, die irgendwelchen Schwachsinn verkaufen und, ich traue meinen Augen kaum, zwei Securities, die freundlich lächeln und denen meine Tasche egal ist. Hurra für einen Ort, an dem es möglich ist, ohne Überwachungsinstanzen und Kameras Spaß zu haben und auf den funktionierenden Regelkatalog für zwischenmenschliches Verhalten vertraut wird. So spielt Public Enemy nur von vier Securities bewacht, zwei davon sind junge Damen, erst knapp dem Teenageralter entronnen. Ist das die Stimmung, von der Susi Ondrusova erzählt hat, die spezielle ATP Magie? Soll ich hinter die Bühne rennen und Flavour Flav fragen, ob er mit mir Pony reiten gehen will? Einmal Whale Watching mit Terminator X?
Aber nach ein paar Minuten auf dem Gelände beginnt meine Euphorie zu bröckeln, weil... es ist doch nicht alles so gut. Es tröpfelt und es gibt weit und breit nichts außer der Halle, dem Parkplatz und ein paar Betonklötzen Marke Mini-Project, in denen die Festival-Besucherinnen wohnen. Hier stehen ein paar hundert gut gekleidete Menschen, IsländerInnen und BritInnen, die wissen, wie man die Garderobe auf unwirtliche Verhältnisse abstimmt und doch mondänen Chic bewahrt, im Nichts. Wo ist die liebevolle Dekoration, wo das Teezelt mit den veganen Kuchen?
Natalie Brunner
Und dann beginnt Iggy Pop und alle sind sich einig, dass er Gott ist und verstehen plötzlich wieder, warum laute Gitarren-Musik eine Mark, Bein und Gesellschaft erschütternde Revolte war. Die Anlage ist so laut, intensiv und gut, dass wir uns unterhalten können und doch das Herz im Rhythmus des Basses zu schlagen beginnt.
Natalie Brunner
Iggy Pop spielt ein Greater than Greatest-Hits-Set, ich spüre Lust for Live durch meine reisemüden Knochen fließen. Ich will Schlachthöfe anzünden, Prank Calls beim Finanzamt machen, mit Bungeeseil von einer Klippe springen und Pinguine über Eisschollen verfolgen, um sie mit Zuneigung zu terrorisieren.
Wenn ein Konzert das auslösen kann, dann scheiß ich auf nasse Füße und jegliche Art von Comfortzone.