Erstellt am: 4. 7. 2015 - 13:00 Uhr
"Alleine ist man weniger zusammen"
"Wedding ist ja im Kommen", heißt es seit Jahren beschwichtigend, wenn man öffentlich zugibt, in diesem Berliner Viertel zu wohnen. Plattenbauten-Tristesse, Arbeitslosigkeit und gelebtes Multi-Kulti prägen den Stadtteil. Die Mieten sind noch vergleichsweise niedrig, die Gentrifizierung steht erst in den Startlöchern. Hier findet man noch echte Unikate, keine neureichen Schnösel in generalsanierten Luxuswohnungen, sondern interessante Charaktere. Nicht selten wird die Nase gerümpft, wenn Paul Bokowski sich zu Wedding als seiner Homebase bekennt. Hier spielt das Leben, hier findet er Inspiration.
Manhattan
Seien es die alten Damen in seiner Wohnhaus-Anlage, die mit ihren Unterarmen am Fensterbrett angewachsen sind und lautstark von einem Fenster zum anderen im breiten Berliner Dialekt krakeelen ("Herta... ick gloob, ick hab mir verliebt!"), seien es die potentiellen Nachmieter_innen, die Bokowski eindeutig zweideutige Angebote machen, um die knapp 70-Quadratmeter-Wohnung mit den schönen verputzten Wänden für 380 Euro im Monat zu ergattern ("Der Björn hat schon oft den Wunsch nach neuen sexuellen Erfahrungen geäußert!") oder die Betrunkenen, die in der Nacht originellen Unrat in Form eines alten schweren Aquariums mit nach Hause nehmen wollen, das weggeworfen wurde und seitdem - wie jeder Müll in Wedding - einfach auf der Straße liegt. Bokowski schreibt über sich selbstständig machende Waschmaschinen, die in seiner Wohnung herumwandern, bis sie sich schließlich am Balkon aussperren, über seine Beziehung zu seinen polnischen Eltern und der Isolation in der Großstadt. Was an seinen Geschichten Fiktion ist und was der Wahrheit entspricht, überlässt er der Entscheidung der Leser_innen und genießt es, sie hinters Licht zu führen. Im Interview behauptet er, die Geschichten, die er kaum verändert, sondern als Gedächtnisprotokoll niederschreibt, funktionieren am besten. Und es bleibt die leise Befürchtung, dass wirklich vieles so passiert ist, wie es im Buch zu lesen ist. Seine Texte probiert Paul Bokowski vor einem Live-Publikum aus, er ist in der Berliner Lesebühnenszene zu Hause. "Brauseboys" und "Fuchs & Söhne", so die Namen seiner Ensembles. Wenn eine Geschichte beim Publikum durchfällt, zu wenig gelacht wird, wird sie nicht gedruckt. Aber seht selbst:
Paul Bokowski ist auch Redakteur der Satirezeitschrift "Salbader" und Back-Blogger.
"Ich möchte keineswegs behaupten, dass man bei OBI ein wenig arbeitsscheuer ist als bei anderen Baumärkten, als ich aber einen Karton Hohlraumdübel aus dem Regal nehme und dahinter einen Mitarbeiter entdecke, habe ich doch ein wenig Mühe besonders überrascht zu tun."
"Wenige Minuten, nachdem unser ICE den Bahnhof Berlin-Spandau verlassen hat, erheben sich die ersten Rentner, um sich langsam und allmählich auf ihren Ausstieg in Hannover vorzubereiten. Als ich Stunden später irgendwo zwischen Bielefeld und Hamm aus einem unruhigen Schlaf gerissen werde, weil mir ein 6- bis 7-jähriges Kind im Sitz gegenüber kleine Popelbällchen ins Gesicht schnippt, formiert sich eine sehr alte Erkenntnis vor meinem inneren Auge: Du sollst nicht Bahn fahr´n!"
"Nach zwölf Stunden osteuropäischer Landstraße kann mich allein die Tatsache beschwichtigen, dass das Zimmer, in dem wir die kommenden vier Nächte verbringen werden, über einen eigenen WLAN-Router verfügt. Meine tief empfundene Freude darüber kann noch nicht einmal durch den Umstand getrübt werden, dass ich mein Geschäft auf einem Plumpsklo neben dem Hühnerstall verrichten muss und auf einem müffeligen Klappsofa nächtigen werde, auf dem nach verstörend indiskreter Aussage unserer lieben Mutter ihre eigene Entjungferung stattgefunden hat.
Jan Kopetzky
"Alleine ist man weniger zusammen" ist genau wie sein Vorgängerwerk aus dem Jahr 2014 mit dem schönen Titel "Hauptsache nichts mit Menschen" eine hervorragend gelungene, witzige Kurzgeschichtensammlung. Wer auch vor hin und wieder etwas deftiger Kost nicht zurückschreckt, dem sei dieses Kleinod an Wahrhaftigkeit, genauer Beobachtung, Skurrilität im Zwischenmenschlichen und Abstrusitäten im Alltag wärmstens ans Herz gelegt.