Erstellt am: 1. 7. 2015 - 11:15 Uhr
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"Es gibt nichts Langweiligeres als das den ganzen Tag mit den gleichen Menschen zu kommunizieren, zu wissen was dich jeden Tag erwartet, zu kennen was hinter jeder Ecke lauert. Ich will leben! Ich will immer neue Leute aus den verschiedensten Kulturkreisen kennenlernen und nicht mein ganzes Leben lang wie eine Vogelscheuche in meiner Heimatstadt verbringen!“, sagt Arabella aus Vorarlberg. Sie liebt den Balkan. Sie hat jedes Balkanland durchkreuzt. Sie hat alle lokale Tänze getanzt, das lokale Essen gegessen und die lokalen Getränke getrunken. Sie ist nicht eine von diesen Österreichern, die Bulgarien von Rumänien nicht unterscheiden können. Sie kann sogar Rakija von Ţuică klar auseinanderhalten.
Sladjana ist eine pensionierte Belgrader Journalistin. Sie hat jahrelang bei einer renommierten jugoslawischen Zeitschrift gearbeitet. Ihr Mann ist vor vielen Jahren an Lungenkrebs gestorben. Ihre Tochter redet seit Jahren nicht mehr mit ihr und erlaubt ihr nicht, ihre zwei Enkeltöchter zu Gesicht zu bekommen. Nachdem Sladjana in Pension gegangen ist, haben ihre ehemaligen Kollegen aufgehört sie anzurufen. Die Nachbarn mieden sie. Das Leben von Sladjana verlagerte sich ins Internet. Von morgens bis abends kommentierte sie in sämtlichen Internetforen die Weltpolitik, moderne Kunst, die verschiedene Arten Moussaka zu kochen und die neusten Mittel gegen Rheumatismus (im letzten Themenbereich war sie eine echte Koryphäe, Moussaka hat sie seit 1983 nicht mehr gekocht). Die Einsamkeit hatte sie in einem dominanten, habgierigen Menschen verwandelt. Oder vielleicht war sie immer schon so.
CC-BY-2.0 / Christian Heilmann / flickr.com/codepo8
Arabella hatte eine Wohnung in einem alten Wohnhaus im Zentrum von Belgrad gemietet. Das Wohnhaus von Sladjana. Eines Tages trafen sie sich im Stiegenhaus. Sladjana sprach perfektes Englisch und lud Arabella zu sich nach Hause ein. Arabella antwortete ihr auf Serbisch. So schmolz das Eis und die beiden mochten sich vom ersten Augenblick an. Sie gingen einige Male auf einen Kaffee und Arabella schenkte Sladjana Mozartkugeln.
Ein Jahr lang blieben sie im Internet im Kontakt, wo Sladjana Arabella über alles beriet. Arabella empfand das als nette Fürsorglichkeit. Vor ungefähr einem Monat schrieb Sladjana an Arabella in einem sozialen Netzwerk: „Ich komme nach Wien. Ich bleibe eine Woche. Ich hoffe es ist kein Problem bei dir zu schlafen. Hab keine Sorge, wenn du was zu tun hast, werde ich in der Stadt spazieren und du kannst machen was du willst. Ich komme am Donnerstag.“
Zuerst war Arabella froh, dass sie ihre Freundin sehen wird. Ganz egal, dass Arabella selbst 27 und Sladjana 65 Jahre alt ist.
Zwei Wochen nach Sladjanas Ankunft traf ich Arabella. Sie sah fürchterlich aus. Anstatt in der Stadt spazieren zu gehen, blieb Sladjana die ganze Zeit in Arabellas Wohnung und durchstöberte Arabellas Laptop. Sie sagte, sie habe Angst mit der U-Bahn zu fahren, weil die meisten Terroranschläge in der U-Bahn passieren. Aber das war Arabellas kleinstes Problem. Sie hatte Angst, dass sie ihre Privatsphäre nach und nach verliert. Die serbische Besucherin zog zuerst Arabellas Lieblingslilapullover an und wollte ihn dann nicht mehr ausziehen. Sie meinte, dass es in ihrem Alter ganz leicht ist, sich eine Lungenentzündung zuzuziehen und der beste Weg sich zu schützen, ist die ganze Zeit einen Pullover zu tragen. Besonders einen Lilanen. Danach sagte sie, sie will Moussaka kochen. Arabella kaufte die Produkte dafür und Sladjana fing an ihr das Rezept aus dem Internet zu diktieren.
Die Moussaka brannte an und Sladjana schrie Arabella an, dass sie nicht gut genug auf ihre Moussaka aufgepasst habe. Ihre Schreie waren so laut, dass die Nachbarn die Polizei anriefen. Arabella beruhigte die Polizisten, dass alles in Ordnung sei und schickte sie weg. Danach tat es ihr leid, dass sie nicht die Wahrheit gesagt habe, dass sie von einer alten Frau in ihrer eigenen Wohnung terrorisiert wird.
Als Arabella am Abend nach Hause nach der Arbeit kam, fand sie Sladjana, die in ihrem Bett schlief. Sie versuchte sie zu überreden sich auf die Couch zu legen. Sladjana fing zu weinen an. Sie sagte, Arabella versuche ihr Rheumatismus anzuhängen, weil es auf der Couch fürchterlich windig sei. Für eine Frau ihres Alters gäbe es nichts Schlimmeres als Rheumatismus und Wind. Arabella, ein delikater und gebildeter Mensch, versuchte ihr die Lage anzudeuten. Sie las ihr ein Märchen aus „1001 Nacht“ vor über den Meeresteufel, der auf Sindbads Rücken durch die Welt ritt. Vom der Andeutung verstand Sladjana nur, dass Sindbad am Ende den Meeresteufel betrunken macht und mit einem Stein tötet. Sie weinte wieder und sagte Arabella wird sie vergiften. Sie erklärte, dass sie ab jetzt in Hungerstreik ist. Arabella sagte ihr, sie solle was essen, aber Sladjana akzeptierte nichts von ihr.
In der Nacht hörte Arabella (die auf der Couch schlief), dass jemand durch die Wohnung geht. Ein gespensterhaftes Licht leuchtete durchs Zimmer. Sladjana, mit einem Riesenmesser in der Hand, warf ihren Schatten an die Wand. Einen Augenblick bevor sie zu schreien begann, sah Arabella die hungrige Sladjana, die sich gerade ein Stück Käse abschneiden wollte, und das Licht kam vom Kühlschrank. Am nächsten Morgen bat Arabella Sladjana ihre Wohnung zu verlassen.
Ich fragte Arabella, was sie jetzt machen will und wo sie als nächstes auf dem Balkan hinwill. Sie dachte kurz nach und sagte: „Ich glaube das nächste Mal fliege ich nach Afrika!“