Erstellt am: 30. 6. 2015 - 14:52 Uhr
Die Nachbarn aus Damaskus
#refugeeswelcome
FM4 stellt Initiativen vor, die die Situation von Flüchtlingen in Österreich verbessern wollen. Wir sind über alle weiteren Hinweise über NGOs und engagierte Privatinitiativen dankbar.
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"Ich hole Sie von der Haltestelle ab, sonst werden Sie nie zu uns finden", sagt mir Emil Weber am Telefon. Ich glaube, er übertreibt. Aber als ich um halb neun in Riederberg in Sieghartskirchen mit müden Augen aussteige, wartet der Unternehmensberater munter und frisch auf mich. Dann führt er mich durch den Wienerwald. Er weist den Weg: "Wir müssen bei diesem Baumstamm links abbiegen." So orientiert man sich hier also.
Nach der Wanderung durch den Wald landen wir auf einer Lichtung. Hier liegt das Sommerhaus der Familie Weber. Grüne Wiesen, selbst angebautes Gemüse und eine alte Schaukel. Schön ist es hier, ruhig und etwas isoliert. Seit zwei Wochen ist Familie Weber nicht mehr alleine in ihrem Sommerversteck.
APA/ROBERT JAEGER
Ein neues Zuhause
Im Gästehaus lebt Familie Ali aus Syrien. Wir klopfen an und Kazim Ali macht die Tür auf. Die Kinder Mahmud und Rama springen sofort heraus und fangen an, im Garten zu spielen. Kazim Ali sieht noch verschlafener aus als ich. Es ist Ramadan und er fastet. Deshalb frühstücken er und seine Frau kurz vor Sonnenaufgang.
"Ich habe im Fernsehen diese Zeltstädte gesehen. Da dachte ich mir, wir haben dieses Gästehaus, wieso nutzen wir es eigentlich nicht? Drei Wochen später war die Familie hier", erzählt Emil Weber. Die neuen "Gäste" der Familie Weber kommen aus Damaskus. Kazim Ali war in Syrien Lastwagenfahrer. Vor einem Jahr hat er beschlossen, das vom Krieg geplagte Land zu verlassen. Wie viele andere hat er sich auf die gefährliche Reise quer durch Europa gemacht.
"Damascus, Turkiye, Macedonia, Serbia, Hungaria, an-Nimsa." Mit englischen, deutschen und arabischen Wörtern erklärt Kazim, wie er nach an-Nimsa, also nach Österreich gekommen ist. Viel will er nicht über Syrien erzählen. Seine Eltern und Verwandten leben noch dort und er macht sich Sorgen um sie.
APA/ROBERT JAEGER
Den Asylstatus hat er schnell erhalten und konnte so vor vier Monaten seine Frau und seine Kinder zu sich holen. Sie warten noch auf die Anerkennung als Flüchtlinge. Zunächst ist die Familie Ali im hoffnungslos überfüllten Traiskirchen gelandet. Im Gästehaus der Familie Weber hat sie schließlich ein neues Zuhause gefunden.
Das kleine Wörterbuch
Private Initiativen für Flüchtlinge:
You are welcome
Drei TwitterInnen haben sich zusammengetan und sammeln Briefe, Willkommensbotschaften und aufmunternde Worte, die sie an Flüchtlinge weiterleiten.
"Machbar in Not" - Volkshilfe, Caritas, Rotes Kreuz und Diakonie suchen Privatunterkünfte für Flüchtlinge. Unter der Hotline 01/8904831 können Menschen ihre Privatquartiere anbieten und Flüchtlingen diese für einen längeren Zeitraum zur Verfügung stellen.
IntegRADsion
Anna Eder stellt mit dem Projekt IntegRADsion Fahrräder für Flüchtlinge auf.
Die beiden Familien leben seither in enger Nachbarschaft. Es gibt nur ein Problem: noch kommunizieren sie mit Händen, Füßen, rudimentärer Zeichensprache und einem kleinen Wörterbuch. Doch Arabisch und Deutsch sind beides komplizierte Sprachen, das Wörterbuch hilft oft nur wenig. Kazim Ali hat einen Platz in einem Deutschkurs, der fängt aber erst im September an.
Wenn es mal gar nicht geht, ruft Emil Weber einen Freund der Familie Ali an. Abdulsalam lebt in Wien und spricht Englisch. Er übersetzt dann zwischen den beiden Familien. Das wichtigste aber ist letztendlich die gegenseitige Empathie.
"Meine Frau und ich versuchen uns in ihre Lage zu versetzen und fragen uns, was wir bräuchten, wenn wir in ihrer Situation wären", sagt Emil Weber. Seine Frau und er sind gläubige Christen. Sie handeln auch aus Nächstenliebe.
Die Unterstützung, die sie von ihrem Umfeld bekommen haben und die positiven Reaktionen sind für Emil Weber überwältigend. "Für uns ist das sehr bestärkend", sagt er mit zittriger Stimme. Die Nachbarn sammeln Spielzeuge für die Kinder und organisieren Fahrgemeinschaften für Behördengänge und Bekanntenbesuche in Wien.
Wo bleibt die Menschlichkeit?
Wie lange es dauern wird, bis die Familie eine permanente Unterkunft findet, ist unklar. Kazim Ali hat als anerkannter Flüchtling zwar eine Arbeitserlaubnis, aber die sprachlichen Barrieren hindern ihn derzeit daran, eine Arbeit zu finden.
FM4/Ali Cem Deniz
Ab September lebt Familie Weber wieder in Wien. Was passiert dann mit ihren Nachbarn im Gästehaus?
"Sie haben den Zugangsweg gesehen. Der ist im Winter nicht begehbar. Es ist nicht einfach, aber man kann hier leben. Man muss sich frei schaufeln", sagt Emil Weber. Bis die Familie eine permanente Unterkunft findet, bleibt sie jedenfalls im Gästehaus.
Von widrigen Umständen lässt sich Emil Weber aber nicht abschrecken: "Es ist nicht so schwierig. Ich glaube, dass viele Leute helfen möchten. Wenn die Politik Rahmenbedingungen schafft, könnte sich das Problem von selbst lösen, wie in der Bosnienkrise. Damals gab es kein großes Aufsehen. Haben wir in den letzten 25 Jahren die Menschlichkeit verlernt?"
FM4 Auf Laut - Hilfst du Flüchtlingen?
FM4 Auf Laut blickt angesichts des unwürdigen Umganges mit Flüchtlingen auf die steigende Hilfsbereitschaft von ÖsterreicherInnen. Claus Pirschner diskutiert mit AnruferInnen, ob sie Kontakt zu Flüchtlingen in ihrer Region haben und ob sie helfen - etwa mit Essen, Bekleidung, Unterbringung, gemeinsamen Unternehmungen oder beim Deutschlernen.
Zu Gast im FM4-Auf-Laut-Studio sind Klaus Hofstätter von der Asylkoordination sowie ein jugendlicher Flüchtling und seine ehrenamtliche Patin von Connecting People. Dieses Projekt der Asylkoordination bringt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und ÖsterreicherInnen zusammen, die ihnen im Alltag zur Seite stehen wollen.
Die Nummer ins Studio: 0800 226 996 und international: 0043 1 503 63 18