Erstellt am: 8. 7. 2015 - 12:52 Uhr
Im Labyrinth der Lügen
Sam Barlow
Die Frau auf dem Bildschirm wirkt blass und verschüchtert. Man kennt das Bild aus unzähligen Krimis und Polizeiserien, in denen Zeugenaussagen auf Video aufgenommen werden. Kaltes Neonlicht, ein Zeitstempel oben rechts und der unsichere Blick direkt in die Kamera sagen uns, dass es hier um ein Verbrechen geht, und natürlich liegt es an uns, den Spielerinnen und Spielern von "Her Story", Licht ins Dunkel eines Kriminalfalls zu bringen.
Die größte Besonderheit liegt dabei allerdings schon in der Präsentation: Hier gibt es keine durch aufwendige Computergrafik dargestellten Figuren, sondern vor uns sitzt eine Frau aus Fleisch und Blut, dargestellt von der Schauspielerin Viva Seifert. "Her Story" arbeitet ausschließlich mit mehreren Stunden echtem Videomaterial. Doch keine Angst: Im Gegensatz zu den früheren Versuchen, echte Schauspieler in Spiele einzubinden, ist diese Mischung zum vielleicht allerersten Mal richtig gut gelungen. "Her Story" ist wohl das erste Full-Motion-Video-Spiel, das aus der Verbindung der Medien etwas Spannendes macht.
Die Nadel im Datenbank-Heuhaufen
Das Verbrechen, ein Mord am Ehemann der Frau, liegt mehr als 20 Jahre in der Vergangenheit, im Jahr 1994, und unsere Aufgabe ist es, auf einem alten, klapprigen Polizeicomputer aus den Verhörvideofragmenten eine Antwort auf viele Fragen heraus zu suchen. Die Spieloberfläche ist einfach das Interface der Datenbank, in der fast 300 Schnipsel von Zeugenaussagen dieser Frau gespeichert sind.
Dazu müssen wir mit gezielten Suchbegriffen nach relevanten Passagen in den Verhören suchen und dann aus den gefundenen kurzen Videos unsere Schlüsse ziehen. Eine fast archaische Benutzeroberfläche, Spiegelungen auf dem alten Röhrenmonitor und Tastatur- und Festplattengeräusche geben der nüchternen Datenbankabfrage etwas Haptisches, Greifbares, das durch die Unmittelbarkeit der Videos noch verstärkt wird. Hier gibt es keine Trennung zwischen Spielfigur und SpielerInnen: Unsere Suche, unsere Schlussfolgerungen und unser Nachdenken darüber sind das Spiel.
"Her Story" verlangt uns deshalb auch wirklich detektivisches Gespür und Aufmerksamkeit ab - und tatsächlich sieht man sich beim Spiel dazu gezwungen, sich ganz klassisch auf Papier Notizen zu dem verworrenen Fall zu machen. Dass die eigene Interpretation letztlich subjektiv bleibt, macht das Rätsel nicht weniger faszinierend.
Sam Barlow
Abstraktes Metroidvania
Originelle oder gar ganz neue Spielideen sind selten, doch "Her Story" ist tatsächlich ein Unikat. Durch die simple Suche nach Stichworten und immer neuen Videoteilen bahnen wir uns nach und nach einen Weg durch das Lügenlabyrinth, und es ist die große Leistung des Entwicklers, dass wir dabei immer wieder überrascht und mit neuen Wendungen konfrontiert werden. Eigentlich, so könnte man interpretieren, ist "Her Story" in gewisser Weise ein Spiel aus der Gattung der "Metroidvanias": Eine prinzipiell offene Spielewelt, in der sich durch das Entdecken neuer Werkzeuge - in diesem Fall neuer Hinweise und Suchbegriffe - nach und nach neue Wege erschließen. Stück für Stück setzt sich so die komplexe Geschichte dieser Frau zusammen, die sich vor unseren Augen öffnet, in Widersprüche verstrickt und ihre Geheimnisse preis gibt. (Oder vielleicht auch nicht?)
"Her Story" ist für Windows und iOS erschienen.
"Her Story" fasziniert sowohl durch die schauspielerische Leistung, als auch durch die Story, die mit mehreren Wendungen aufwartet. Nach einiger Zeit gerät auch die banale Suche nach dem Täter in den Hintergrund und die Frage nach dem "Warum", nach immer neuen Facetten dieser Person rückt ins Zentrum. "Her Story" ist ein absolut gelungenes Experiment, das aus einer eigentlich simplen Idee ein einzigartiges Spielerlebnis macht. Ein Pflichttitel für Freunde des Besonderen.