Erstellt am: 29. 6. 2015 - 19:44 Uhr
Es geht uns gut
Daniel Grabner
Ich war bisher noch nie in Belgien. Als ich Donnerstagmorgen in Brüssel ankomme, bestätigt sich spontan eine der beiden Assoziationen, die ich mit Belgien habe. Finanzminister Schelling saß in meiner Maschine: Brüssel und damit Belgien ist institutionelles Herzstück der EU.
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Assoziation Nummer zwei ist ein kleiner Junge mit blauer Mütze, der einen Feldweg hinunterläuft und immer wieder „Anika, Anika!“ ruft. "Niklaas, ein Junge aus Flandern", die Zeichentrickserie, die mir als Kind unmissverständlich klar machte, dass das Leben nicht immer ein Happy End bereithält, dass das Leben nicht immer in Watte gebettet ist und man als Kind im Europa des frühen 20. Jahrhunderts verhungern und erfrieren konnte.
Ein kleines Dorf in Flandern
Ich bin auf dem Weg nach Flandern, genauer gesagt, in eine kleine Ortschaft namens Werchter. Das Rock Werchter ist seit den 1970ern vom kleinen Blues- und Jazzfestival zum viertgrößten Musikfestival Europas geworden.
Bis zu 88 000 Besucher wandern an Festivaltagen durch die kleine Ortschaft, die Straßen sind größtenteils für Fahrzeuge gesperrt, man geht/steht/sitzt auf den Straßen. Das, was wie ein Ausnahmezustand klingt, sorgt in Werchter für einträchtige Volksfeststimmung. Die Einwohner sitzen in improvisierten Schanigärten am Straßenrand, prosten sich zu und beobachten die Menschenmassen, die sich durch die Straßen schieben. Ein monotones Murmeln liegt über der Ortschaft, das immer wieder vom Klingeln der Fahrradfahrer unterbrochen wird.
FM4 / Daniel Grabner
Schon am ersten Tag fällt mir die entspannte Ruhe auf, die ungewohnterweise für ein Festival dieser Größe herrscht. Die Securities lächeln, einer gibt mir ein „Have fun!“ mit auf den Weg. Auf dem Gelände befindet sich die Open-Air-Stage, zwei weitere Bühnen sind in überdachten Hallen untergebracht. Dazwischen gibt es ein paar Kieswege und riesige Grasflächen.
FM4 / Daniel Grabner
Die Sonne scheint, viele Menschen liegen in kleinen Grüppchen im Gras, unterhalten sich oder schlafen. Alle paar Minuten fliegt ein Verkehrsflugzeug über unsere Köpfe und angesichts der beruhigten Grundstimmung, die vorherrscht, bin ich geneigt, den Chemtrails-Fanatikern ausnahmsweise mal zu glauben.
Interessant ist das Bon-System, das gut funktioniert: Essen und Getränke kann man nur mit vorher am Gelände gekauften Bons bezahlen. Einerseits verliert man dadurch den Überblick über die Ausgaben, andererseits muss man hier nirgends länger als ein paar Minuten in der Schlange stehen. Also auch hier wieder: Entspanntheit. Es gibt auch keine harten alkoholischen Getränke, nur Bier und Wein und eine riesige Auswahl an verschiedenen Speisen, u.a. Austern. Man hat den Eindruck, dass die Musik hier nur angenehme Nebensache ist, und das Rock Werchter vielmehr gigantisches Picknick als Musikfestival.
FM4 / Daniel Grabner
Eingepackt in Watte
Dabei kann sich das Line-Up am Rock Werchter durchaus hören lassen, es gibt klassische Festival-Acts wie The Prodigy, Chemical Brothers, oder Faith No More, Bands, die man wahrscheinlich schon irgendwann mal auf einem Festival gesehen hat. Aber auch eine feinsinnige Auswahl an musikalischen Perlen: Caribou, Hot Chip, oder Alt-J, aber auch War On Drugs oder die Antwoord.
Dass zwei von drei Spielstätten Hallen mit begrenzter Kapazität sind, lässt mich am ersten Tag Elbow versäumen. 15 Minuten vor Beginn des Konzerts war die Halle schon überfüllt. So liege ich dann mit anderen in der Wiese vor der Halle, höre die ersten Takte von „Grounds for Divorce“ und bin seltsam entspannt. Ich denke darüber nach, ob das hier überhaupt ein richtiges Festival ist. Es wirkt hier wie eine riesige Oase des Eskapismus, was draußen passiert, will hier nach kurzer Zeit niemand mehr wissen. Es gibt so gut wie keine Probleme, keine Übel, die man in Kauf nehmen muss, solange man hier ist.
Für Alt-J am nächsten Tag bin ich gut vorbereitet: Eine Stunde vor Konzertbeginn bin ich in der Halle und schaffe es bis in die zweite Reihe. Vor mir stehen zwei ca. Zwölfjährige mit ihrer Mutter, noch bevor Joe Newman die Bühne betritt formen sie mit erhobenen Händen das Alt-J-Delta.
FM4 / Daniel Grabner
Jede Menge Amore
FM4 war auf Einladung von Visit Flanders beim Rock Werchter
Um mich herum höre ich kaum andere Sprachen als Niederländisch oder Französisch, die Festivalbesucher
kommen zum Großteil aus der fünfzehn Kilometer entfernten Studentenstadt Löwen, in der während des Semesters knapp fünfzigtausend Studenten leben. Umso überraschter bin ich, als ich am dritten Tag ein paar Sätze in Vorarlberger Akzent höre. Tom aus Vorarlberg, die Kärntnerin Lisa, und Reinhard aus Niederösterreich haben sich hier kennengelernt. Sie liegen in der Wiese vor der Open-Air-Stage, auf der gerade War on Drugs zu spielen begonnen haben. "Es ist hier viel entspannter als bei unseren Festivals", sagt Reinhard, "wie in einer Blase, man will hier gar nicht mehr weg", und Lisa lacht: "Hier ist ganz viel Amore in der Luft, es geht uns gut." Happy Endings scheinen hier möglich.