Erstellt am: 29. 6. 2015 - 07:00 Uhr
Artist Of The Week: Ezra Furman
Geehrte Furman-Fans, ich gebe es zu, hier spricht ein Spätbekehrter. Das Ding ist dieses: Ezra Furman ist in Österreich schon länger unausweichlich als hier, und ich muss ehrlich sagen, als ich ihn vor ein paar Jahren mit den Harpoons gehört hab, hat mich das noch nicht so mitgenommen, und es war von hier aus leicht, ihn aus den Augen zu verlieren.
Das passiert ja nicht täglich, aber in diesem Fall hat Österreich es eindeutig besser gewusst.
Gut auch, dass ich die ersten drei Versuche für diesen Absatz wieder gelöscht habe, jetzt bleibt mir nämlich vor der Deadline keine Zeit mehr, es anders als gerade heraus zu sagen: Ezras neues Album "Perpetual Motion People" ist ein großer Wurf mitten aus der Schulter (ich wohne gegenüber von einem Cricket-Platz und hab nichts gelernt).
Artist Of The Week
Musik-Tipps aus der FM4 Redaktion, jede Woche neu. Diesmal mit Ezra Furman.
Die Größe dieses Album wurde mir erst wirklich bewusst, als ich mit dem Auto nach Maidstone fuhr (schon wieder), wo die BBC ihre Jools Holland Shows aufnimmt. Ezra wartete dort in einem suburbanen, in versehentlich postmodernem Pagoden-Stil gebauten Hotel auf seinen späteren Soundcheck.
Ein Glück übrigens, dass die längere Freitagsausgabe der Jools Holland-Sendung immer die aufgezeichnete ist (die Dienstags-Ausgabe ist live und wird von allen beteiligten Bands stressbefreit gespielt, nachdem die Freitagsausgabe, die hernach weltweit exportiert wird, schon aufgenommen wurde - folglich ist die Dienstagsausgabe immer die bessere, so viel nur nebenher bemerkt):
Am Freitagabend spielt Ezra nämlich, wie die meisten hier wissen werden, schon seit anderthalb Jahren keine Gigs mehr, weil er auch auf Tour den Schabbes ehrt - obwohl er sonst nicht gerade nach den Regeln des orthodoxen Judentums lebt, aber darauf kommen wir noch zurück.
Ezrafurman.com
Vor sechs oder sieben Wochen beim Autofahren durch Kent jedenfalls ist mir "Perpetual Motion People" auf der CD-R, die ich mir vom Promo-Download gebrannt und die mein iTunes wieder einmal in arbiträrer Reihenfolge neu durchmischt hatte, erst so richtig eingeschossen (keine Angst, Plattenfirma, die CD-R hat sich in der Zwischenzeit längst selber vernichtet).
Das ist nämlich das nächste: In meinen ersten drei Entwürfen für diesen Text hatte ich den Zusammenhang zwischen der sexuellen Emanzipation Ezra Furmans und equal marriage hergestellt (wir hatten im Interview sogar schon einigermaßen vorausblickend darüber geredet: Es sei ihm eigentlich wichtiger, dass Jugendliche, die erkennbar queer sind, nicht von ihren Mitschülern erschlagen werden, sagte Ezra, und da hatte er gleich einen guten Punkt getroffen, weil sie ja sehr selektiv ist, die Regenbogen-Toleranz, die noch lange keine Akzeptanz ist, wie man im Conchita-Land noch besser als anderswo weiß).
Ich hatte für diesen Text hier auch eine halbfertige Theorie darüber gesponnen, ob diese Spannung zwischen seiner Frömmigkeit und seinem Freigeist (eine Spannung, die er gleichzeitig anerkennt und in Frage stellt) notwendig ist, um jene widerständische Energie neu zu erzeugen, die Ezra einst bei den Harpoons aus seinem unterdrückten Wunsch zum Ausbruch aus männlichen Verhaltensmustern bezogen hatte ("das ist eine wirklich interessante Frage", war übrigens im Interview die Antwort darauf, gefolgt von einem in einen längeren Exkurs verpackten, grundsätzlichen Ja).
Ich hatte auch eine kleine Abhandlung darüber begonnen, was für eine Rolle Ezras zunehmender Rückgriff auf Rock'n'Roll- und Doo Wop-Idiome, das ganze Schangalangadopshoowop, das trötende Sax und die gelegentlich auf den jüdischen Beitrag zum frühen Jazz verweisende Klarinette dabei spielt: Und zwar nicht als putzige Retro-Macke, sondern als inhärente Allegorie auf jenen Pop, der in den mittleren Fünfzigern bis Frühsechzigern seine oberflächliche Fröhlichkeit als Tarnung seiner Überschreitung repressiver Normen einsetzte.
Ezra Furman live
09.11.: Wiener Flex
10.11.: Spielboden Dornbirn
Als vierte Variante wog ich noch ab, vielleicht einmal eine Geschichte darüber zu machen, wie die Obession Identity Politics zwar die Linke zerstört, in der Popmusik aber eine stimmige, durchaus einflussreiche Rolle gefunden hat (dieser Gedanke wurde gottseidank schon vor der versuchten Ausformulierung abgebrochen).
Robert Rotifer
Aber dann kam ich wieder auf das eine zurück, das ich an jenem Tag beim Interview nicht einmal erwähnt hatte. Die Wahrheit, die mir zu banal war, um sie vor so einem offensichtlich blitzgescheiten Menschen auszusprechen (auch wenn er seine Weisheit im Gespräch mit sehr, sehr langen Pausen zwischen den wohlgewählten Worten kundtut, was dann in jedem hörbaren Edit auf dem Bildschirm aussieht wie die Kopfansicht einer auf der falschen Seite aufgerissenen Packung Mannerschnitten), nämlich:
"Perpetual Motion People" ist vor allem anderen (Radfahrer_innen mögen mir das eine Mal verzeihen und sich in meine Americana-Folklore reinversetzen) eine fantastische Autofahrplatte.
"I take these aimless drives from 2am to 4 / I live these secret lives / Identities that all die off / And not one survives / By morning there's nobody at the wheel"
Das singt Ezra Furman im Song "Haunted Head", der wie eine Kreuzung aus einem Fifties-Schlager und "Sound and Vision" von David Bowie klingt.
Bella Union
Beim Manuskriptschreiben für diese Artist Of The Week-Serie ist der mir dann übrigens schon einmal untergekommen, der Bowie-Vergleich. Weil es ja nun 44 Jahre her ist seit "Hunky Dory" und der furchtlosen Darstellung von Weiblichkeit seitens eines bisexuellen männlichen Popstars.
Er führt nicht viel weiter als bis zu "Haunted Head", dieser Vergleich, er hat nichts zu sagen über mitreißende Balladen wie "Ordinary Life", das keineswegs ironisch zu verstehende "One Day I Will Sin No More" oder das tragische Trinkerlied "Hour of Deepest Need". Aber er ist immerhin nicht der Jonathan Richman-Vergleich, den man sonst immer liest.
Obwohl der natürlich auch nicht falsch liegt, wenn man so quasi-naive Songs wie "Wobbly" oder "Pot Holes" hernimmt, und überhaupt, was war "Roadrunner", wenn nicht die beste Autofahrmusik aller Zeiten? Eben, da sind wir wieder bei der Essenz.
Ich kann nur sagen: "Tip of the Match" mit seinem brutal übersteuerten, hemmungslos in den roten Bereich gepegelten Sound auf der A249 zwischen der A2 und Maidstone bei 50 Meilen-Limit und 15 Prozent Gefälle Richtung Medway-Tal, mehr braucht man manchmal nicht, um die auf Selbstzerstörung versessene Welt da draußen zu vergessen.
So, und jetzt hab ich hier erst recht keine Erwähnung von "Watch You Go By" untergebracht, das mich unfassbarerweise an Ronnie Lane's Slim Chance erinnert. Die Referenz könnt ihr euch ja selber dazu denken, oder auch nicht.