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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

26. 6. 2015 - 13:15

Nicht ins Schema passen

Eine mysteriöse Autorin und ihr Debüt über einen Sozialfall begeistern den Literaturbetrieb. Zurecht.

I. J. Kay ist wie aus dem Nichts gekommen. Denn es passiert nicht oft, dass eine Newcomerin die Literaturwelt auf den Kopf stellt. Gleich ihr erster Roman begeistert die internationale Kritik. Die englischsprachige Presse feiert sie als große Neuentdeckung. Über ihre Person ist allerdings kaum etwas bekannt. Zumindest nicht mehr als über die Kurzbiographie im Klappentext hinaus geht: Sie wurde 1961 in Suffolk geboren, lebt auf einem Hausboot in Bristol und Gambia und I. J. Kay ist nicht ihr richtiger Name, sondern ein Pseudonym.

Autorin I. J. Kay

John Meadows

Dieser Schnappschuss ist das einzige Bild, das von I. J. Kay im Internet kursiert.

Nördlich der Mondberge

Diese öffentlichkeitsscheue Schriftstellerin hat nun ein Debüt geschrieben, über das sich glücklicherweise mehr sagen lässt als nur ein Absatz.

"Nördlich der Mondberge" (orig. "Mountains of the Moon") handelt von einer jungen Frau, die nach 10 Jahren Gefängnis versucht, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen.

Jemand vom Personal gibt mir eine Liste mit Organisationen, die mir bei der Suche nach einer neuen Unterkunft helfen könnten. Ich rufe dort an. Sie können mir helfen, wenn ich Kinder habe, vor häuslicher Gewalt fliehe, ein Flüchtling oder Angehöriger einer Minderheit bin, und sie können mir helfen, wenn ich Probleme mit Alkohol oder Drogen habe. Ich passe nicht ins Schema. Habe ich noch nie.

Buchcover "Nördlich der Mondberge" von I. J. Kay, Verlag Kiepenheuer & Witsch. Roter Hintergrund mit Frauengesicht darunter der Titel

Kiepenheuer & Witsch

"Nördlich der Mondberge" ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Deutsche Übersetzung von Steffen Jacobs.

Das Buch folgt vier Erzählsträngen: Zunächst dem der 30-jährigen Louise, die aus dem Holloway Prison in London entlassen wird und in langen Nachtschichten Marmelade in Doughnuts füllt. Dem der 21-jährigen Beverly bzw. Kim, die als Croupier in einem billigen Kasino arbeitet und sich eine Bude voller Hundekacke mit einer Alkoholikerin teilt. Dann ist da noch die 11-jährige Catherine, die aus der Jugendstrafanstalt ausbüchst und die kleine Lulu, die mit ihrem Bruder bei einer narzisstischen Mutter und einem gewalttätigen Stiefvater aufwächst:

Ich mach für Baby Grady ein Nest aus Sofakissen und sing ihm ein Gutenachtlied vor. Dann heb ich die Stühle auf und sammle die Haare und das Spielgeld auf und mach den Küchenboden sauber: fege Glas und Blut und Kippen zusammen. Zwischendurch geh ich ein paarmal hoch und guck nach, ob Mama tot ist. Sie hat sich einfach ins Bett gelegt und starrt ins Garnix.

Diese Erinnerungen gehören alle derselben Person. Das ist zunächst verwirrend, weil Chronologie für I. J. Kay keine Kategorie zu sein scheint und ständig die Perspektive wechselt. Beim Lesen muss man sich zwischen biographischen Anekdoten, Polizeiberichten und Sozialakten zurechtfinden. Zudem verwendet die Protagonistin als Kind eine Sprache nahe dem Analphabetismus. Falsche Satzstellung und Wörter wie "übergerascht" oder "mitgebrungen" sind irritierend und im englischen Original vermutlich besser gelungen.

Trostlos aber voller menschlicher Wärme

"Nördlich der Mondberge" zieht einen dennoch in seinen fast schon absurd trostlosen Bann. Man will wissen, wie diese Frau mit den vielen Namen ihren Zeh verloren hat, woher die Narben im Gesicht kommen und natürlich warum sie im Gefängnis gelandet ist. Die Suche nach den Antworten darauf führt über ihre kindliche Fantasiewelt, in der sie sich als afrikanische Kriegerin imaginiert, bis in die real existenten Mondberge im Ruwenzori-Gebirge zwischen Uganda und dem Kongo.

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Trotz des düsteren Szenarios ist I. J. Kays Roman voller menschlicher Wärme. Von Beginn an ziehen sich liebevolle Gesten unbeteiligter Dritter durch Louises Biographie: Ein Nachbar nagelt ihr eine Sprossenleiter an den Baum, sodass sie dort ihren Zufluchtsort einrichten kann, ihr Stiefbruder schickt ihr fünf Pfund für Hundefutter, eine Modestudentin schenkt ihr einen schönen Mantel. All das und der instinktive Überlebenswille der Protagonistin machen ihr Schicksal etwas erträglicher.

I. J. Kays Debüt ist mit Sicherheit keine Nebenbei-Lektüre, sondern ein Buch, das einen lange nicht mehr loslässt.