Erstellt am: 25. 6. 2015 - 19:00 Uhr
Finale der EU-Verordnung zur "Netzneutralität"
Die europäische Verordnung zum digitalen Binnenmarkt im Telekombereich - breiter bekannt geworden unter dem Stichwort "Netzneutralität" - könnte bereits am Montag abgeschlossen werden. Da EU-Parlament und Ministerrat aus dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission zwei stark abweichende Versionen erstellt haben, wіrd nun im "Trialog" mit der Kommission verhandelt. Wie das jüngste Leak aus diesen Geheimverhandlungen zeigt, ist die populäre Bezeichnung "Netzneutralität" nicht mehr angebracht, da der Begriff vollständig aus dem Text verschwunden ist.
Weil die großen EU-Mitgliedstaaten darauf beharren, dass den Telekoms eine kostenpflichtige "Überholspur" mit garantierter Bandbreite für nicht näher definierte "Spezialdienste" zugestanden wird, ist so ein regulatives Auseinanderdriften der Kontinente vorprogrammiert. In den USA ist nämlich seit zwei Wochen eine genau gegensätzliche Regelung in Kraft. Dort gilt nun strikte Gleichbehandlung allen Datenverkehrs auf der "letzten Meile" zum Kunden, die erste Strafe wurde bereits verhängt.
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Datendrossler in den USA
Die Streichungen von "Netzneutralität" waren bereits beim letzten Leak Ende Mai aufgefallen, währernd die US-Regelung "Net Neutrality" einen zentralen Stellenwert zuweist.
Als erstes Unternehmen hatte Sprint Telecom unmittelbar nach der Entscheidung vor zwei Wochen bekanntgegeben, seine bisherige Drosselpraxis zu beenden. Die bestand darin, den Datenverkehr sogenannter "Heavy User" ab einer gewissen, monatlichen Obergrenze zu drosseln, obwohl der Internetzugang als "unlimitiert" verkauft wurde. Sprint entging damit nur knapp einem Verdikt des US-Regulators FCC, das am vergangenen Mittwoch dann bei AT&T aufschlug. Die Nummer zwei auf dem US-Markt wurde zu einer Strafe von 100 Millionen Dollar verurteilt, weil die LTE-Mobilzugänge von AT&T nach dem Verbrauch von fünf GB Daten automatisch auf 512 Kbit/sec gedrosselt wurden.
Wie Sprint hatte auch AT&T diesen Mobilzugang zum Internet als "unlimitiert" beworben, was gegen die Transparenzregeln in der US-Verordnung zur Netzneutralität verstößt. Diese Regelung zum Konsumentenschutz hatte zwar bereits seit 2010 bestanden, wurde jedoch nicht angewendet, weil bis 2014 Klagen der Telekoms gegen die Gesamtregelung von 2010 liefen. Bis zum Erlass der neuen Regelung zur Netzneutralität hatte sich AT&T vorbehalten, ab drei bzw fünf GB Verbrauch solche Benutzer in Stoßzeiten des Datenverkehrs und auf bestimmten Strecken zu drosseln, wenn diese "stark belastet" seien.
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Offene und andere Internets
Solche Maßnahmen zum "Verkehrsmanagement" gehören mit zu den umstrittenen Punkten zwischen Ministerrat und Parlament, da die jeweilige Netzauslastung prinzipiell ein Betriebsgeheimnis und damit etwa von Konsumentenschützern kaum überprüfbar ist. Der geleakte Text aus dem Trialog widerspiegelt die Wichtigkeit dieser Passagen für die Telekoms. So findet sich der Begriff "Verstopfung" etwa 40 mal im Text, "Traffic Management" kommt auf mehr als 60 Erwähnungen. Dem steht ein knappes Dutzend Verweise auf die Gleichbehandlung des Datenverkehrs gegenüber - die gestrichenen Passagen mit dem Begriff "Netzneutralität" sind dabei inkludiert.
Dieser Begriff wurde durch "Open Internet" ersetzt, als gäbe es mehrere Internets, von den dies eben nur die offene Variante ist. Passend dazu ist die auffällige Thematisierung von Netzblockaden und Filtern etwa für "elterliche Kontrolle", während die Konditionen, unter denen reine Internet-Service-Provider an diese Zugangsnetze andocken können, abseits von einem allgemeinen Diskriminierungsverbot kein Thema sind. Insgesamt ist das ein erstaunlicher Ansatz für eine Wirtschaftsunion, welche die EU primär nun einmal ist.
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Die Genese der Verordnung
Dass die gesamte Regelung sozusagen in der Handschrift der Telekoms gehalten ist, hat vornehmlich prozedurale Gründe, die vom Zeitablauf nicht zu trennen sind. Das EU-Parlament hatte seine Version des Kommissionsentwurfs bereits Anfang April 2014 fertig, erst dann begann der Ministerrat damit, seine Version zu erstellen. Bis zu diesem Punkt war der Vorgang "Business as usual", aber sofort danach nicht mehr.
Anfang April 2014 war die Parlamentsversion mit einer haushohen Mehrheit von 534 Stimmen verabschiedet worden. Änderungern durch den Ministerrat waren damals schon erwartet worden, allerdings nicht in einem Ausmaß, das den ursprünglichen Sinngehalt in sein Gegenteil verkehrt.
Der Rat verfasste nämlich keine Änderungen des Parlamentsentwurf, sondern ignorierte ihn komplett, indem auf den ursprünglichen Kommissionsentwurf zurückgegriffen und begonnen wurde, eine völlig eigene Version zu erstellen. Damit hätte gut und gern schon Ende 2013 begonnen werden können, als sich klar abzeichnete, dass die Verdrehung der Begrifflichkeiten - etwa "Open Internet" statt Internet - und bewusst vage Ausnahmereglungen von der Gleichbehandlung für "spezielle Services", die nicht näher definiert wurden, beim Parlament nicht durchgehen würden.
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Spiel mit Druck auf Zeit
Das passierte nicht, sondern man wartete, bis die Zeit drängte und die Kommission daher ein Limit für eine Einigung setzte. Aus dem geleakten Text aber ist direkt abzulesen, unter welchem Druck das Parlament nun in diesen Trialog-Geheimverhandlungen steht. In vier Spalten werden da der erste Kompromissvorschlag des Parlaments vom 8. Mai, die darauf erfolgte Reaktion des Ministerrats (29. Mai), der Kompromiss der Kommission aus beiden (4.Juni) sowie die Reaktion des Parlaments darauf vom 18. Juni gelistet. Das Dokument zeigt anschaulich, dass sich der Text entlang der Linie des Ministerrats konsolidiert, während das Parlament eine seiner Positionen nach der anderen aufgeben musste.
In der gemeinsamen Strategie von Kommission und Rat spielen Konsumentenschutz, Informationsfreiheit oder die Chancen von europäische KMUs im Internetbereich keine primäre Rolle. Ziel ist es vielmehr, soviele der neuen Geschäftsfelder, die sich rund um das sogenannte "Internet der Dinge" auftun, den europäischen Telekoms zukommen zu lassen. Mit der Einführung des europaweiten Notrufsystems E-Call ab 2018 muss in jedem neu zugelassenen Auto ein GSM-Modul verbaut sein, das natürlich eine SIM-Card enthält.
Autovernetzung gegen Roaming
Der Connected Car Service von AT&T verrechnet für ein Gigabyte Daten 20 Dollar. Technische ist es derzeit nichts anderes als ein mobiler Internetzugang plus WLAN
Da die SIMs inzwischen Kleincomputer mit integriertem Abrechnungssystem sind, ist für die Telekoms ein "Muss-Geschäft" im Bereich Internetservices greifbar nahe, das deutlich lukrativer als das Geschäft mit reinen Internetzugängen ist. Wie ein Blick in die USA zeigt, hat AT&T bereits ein solches Geschäft mit Audi USA abgeschlossen, auch die Deutsche Telekom verfolgt ein Konzept namens "Connected Cars". Das sind die Spezialdienste, um die es aktuell geht.
CC BY 2.0 von flickr.com/zouny
Die Telekoms wiederum sind bereit für Zugeständnisse bei den Roamingkosten, allerdings nur so weit, wie ihnen die letzendliche Regelung des digitalen Binnenmarkts passt. Für die Kommission hat die Abschaffung von Roamingkosten hingegen oberste Priorität. Zum einen lässt sich die einer breiteren Öffentlichkeit weit besser verkaufen - "Keine Handy-Mehrkosten im Urlaub" - als ein sperriges "Neuland"-Thema wie Netzneutralität, das obendrein erst in der Zukunft schlagend wird. Zum anderen will man in Brüssel prinzipiell so weit möglich einheitliche Regelungen für Unternehmen im gemeinsamen Wirtschaftsraum.
Geheime Entscheidungsfindung im Trialog
Richtlinien und Verordnungen der EU, die von zentraler Bedeutung für die gesamte Wirtschaftstrategie der Union gesehen werden, landen letzendendlich immer im sogenannten Trialog. Dieses rein informelle Gremium ist in keinem der EU-Verträge erwähnt, sowohl die Zeiten an denen dieses kleine, stets anders besetzte Gremium aus Parlament, Kommission und Ministerrat tagt, werden nicht öffentlich bekannt gegeben. Ebensowenig gibt es Unterlagen oder offizielle Protokolle, auch Listen der Teilnehmer werden nur intern geführt, es ist daher nicht zu sagen, welche Parlamentarier am jüngsten Kompromiss des Parlaments zum digitalen Binnenmarkt wie beteiligt waren.
Laut dem Büro der europäischen Ombudsfrau Emily O'Reilly sollen es bereits mehr als 300 solche Sitzungen pro Jahr sein, die allesamt undokumentiert geblieben sind. Um etwas Transaparenz in diese auch für das Gros der EU-Parlamentarier völlig undurchsichtige Entscheidungsfindung zu bringen, wurde von O'Reilly anhand einer Richtlinie und einer Verordnung, die mittels Trialog 2014 beschlossen wurden, eine Untersuchung eingeleitet und die Vorlage sämtlicher Dokumente, Listen, Termine und Vereinbarungen verlangt.
Trialog zur Datenschutzverordnung gestartet
Chronik der Auseinandersetzung um die Netzneutralität in 30 FM4-Stories zurück bis auf das Jahr 2011
Der Dachverband der europäischen Bürgerrechtsorganisationen European Digital Rights (EDRi) hat unter Berufung auf das Transparenzgebot der EU die Veröffentlichung der derzeitigen Trialogrunde zum digitalen Binnenmarkt eingereicht. Am Mittwoch startete der erste Trialog zur Datenschutzverordnung, deren bisheriger politischer Ablauf jenem der Verordnung zum digitalen Binnenmarkt zum Verwechseln ähnlich sieht.