Erstellt am: 23. 6. 2015 - 17:36 Uhr
Hinrichten und weiterleben
FM4 Lesestoff
Schleswig-Holstein in den letzten Kriegstagen 1945. Alliierte Jagdbomber stürzen sich auf alles, was nach Nazikriegsmaschinerie aussieht. In einem Wirtshaus erklingt Musik, deutsche Musik von Hans Albers. Drinnen ist schon alles für ein Fest vorbereitet, schließlich ist die Welt rundherum schrecklich genug. Der 17-jährige Melkerlehrling Friedrich Caroli, genannt Fiete, empfängt die Hauptfigur des Romans, seinen Kollegen Walter Urban mit den Worten: "Wir sind doch hier im Stall, oder? Es stinkt jedenfalls so. Ich sehe jedenfalls nur Rindviecher von der SS."
Fiete ist ein störrischer junger Mann. Der Krieg, mehr aber noch die Kluft zwischen Nazipropaganda und realem Schrecken, hat ihn mit Zynismus imprägniert. Vom deutschen Wesen ist nicht mehr viel übrig. Doch noch ist das Nazireich nicht Geschichte. Die SS, so stellt sich an diesem vermeintlich harmlosen Tanzabend zur Aufheiterung der Volksseele heraus, benutzt die Versammlung der Minderjährigen, um ein letztes Kanonenfutter für den längst verlorenen Krieg zu rekrutieren. Freiwillig und für Führer und Vaterland natürlich. Auch wenn man diese kaputte und kaputt gemachte Generation noch mit deutschen "in die Hacken" geworfenen Handgranaten ins feindliche Feuer treiben muss.
Suhrkamp Verlag
Walter und Fiete werden in die Schlacht geworfen. Sie sind ohne Schuld und doch treiben sie mit im Grauen. Es sind fast surreal-apokalyptische Landschaften, die hier vorbeiziehen: gehängte Partisanen in Scheunen, gehängte deutsche Deserteure auf Bäumen, Leichen im Wasser, metallene Raubvögel auf der Suche nach Beute am Himmel. Und in verlassenen Gehöften finden Orgien statt. Das ist das Deutschland nicht in, sondern vor der Stunde Null - bzw. das, was im Chaos der Frontverläufe von der mörderischen Besetzung halb Europas noch übrig ist.
Ralf Rothmann, Spezialist für das Ruhrgebiet der Wirtschaftswunderjahre, hat wichtige Impulse von "Im Frühling sterben" der Biografie seines Vaters abgelauscht. Auch der kam als 17-Jähriger zur Front, wurde dann Bergmann und schwieg den großen Teil seines Lebens über eine Zeit, die zu viel war für einen Teenager. Das Zuviel wird im Roman durch eine Hinrichtung unter Aufsicht der SS-Schergen in die Seele eingesenkt. Getötet wird der mutmaßliche Deserteur Fiete, und Walter muss nach einer letzten, todesgewissen Nacht im Keller mit dem inhaftierten Freund am nächsten Morgen selbst zum Mörder werden: "Alle fertig? Und ... zack! Woraufhin Walter, der ein anderes und auch lauteres Kommando erwartet hatte, bereits Rauch vor den Gewehren sah, eher er abdrückte, ein Reflex mehr als die Ausführung eines Befehls."
"Im Frühling sterben" von Ralf Rothmann ist im Suhrkamp Verlag erschienen.
Das Trauma beschäftigt den Sohn als Autor bis heute. Und so entscheidet sich Ralf Rothmann, seine durch ein Bibelzitat zu Beginn ausgestellte Überzeugung von der generationell weiterwirkenden Vergiftung in eine Rahmenhandlung einzupassen, die vom Sterben und von Gräbern handelt. Und auch mitten im Krieg sucht die Romanfigur Walter, der Vater des Autors, nach dem Grab seines im ersten Weltkrieg gestorbenen Vaters. Am Ende der Rahmenhandlung wandert der Autor auf dem Friedhof seiner Eltern. Deren Grab soll eingeebnet werden. Ist das ein gnädiger Schlussstrich oder ein Akt des befürchteten Vergessens?