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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

22. 6. 2015 - 18:09

Trauer in Graz

Nach der Amokfahrt eines Mannes steht die Stadt still.

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Vergangenen Samstag zu Mittag rast ein Mann am Lenkrad seines Geländewagens in die Grazer Innenstadt. In der Zweiglgasse nahe der Grazer Synagoge und knapp vor der Augartenbrücke fährt der Mann mit dem Auto ein junges Paar nieder. Der Mann stirbt, die Frau ist schwerst verletzt. Der Täter fährt weiter, rammte auf der Augartenbrücke drei Personen gezielt und hält wenige Meter weiter vor einem Supermarkt, springt aus dem Auto und sticht mit einem Messer auf ein Paar ein. Dann steigt er ins Auto, setzt die Fahrt fort, rammt mehrere Radfahrer und fährt schließlich mit hoher Geschwindigkeit durch die Herrengasse und rast in Passanten. Vor der Stadtparrkirche stirbt ein vierjähriger Bub, vor einer Bank eine junge Frau. In der Schmiedgasse wird der Täter schließlich festgenommen. 36 Personen sind zum Teil schwer verletzt.

Kerzen und Blumen und ein "Graz tauert"-Ausdruck

Radio FM4

Es gibt Taten, die sind derart unfassbar, dass man sich kaum damit auseinandersetzen kann. Samstags trödel ich, Samstag gehe ich verspätet über die Brücke Richtung Herrengasse, als Rettungen und ein Kleinbus mit Blaulicht aus unterschiedlichen Richtungen in unterschiedliche Richtungen biegen. Sirenen tönen. Als die Rettung sich nähert, schert ein Autofahrer aus seiner Linie am Grieskai, um noch schnell bei Rot über die Ampel zu fahren und der erste zu sein, während alle anderen ausweichen. Menschen werden an diesem Wochenende sehr unterschiedlich auf die Ereignisse reagieren.

PolizistInnen versuchen mit bemerkenswert professioneller Ruhe, PassantInnen davon zu überzeugen, die polizeilichen Sperrbänder zu beachten. Kaum jemand weiß, wo sie oder er jetzt hineinlaufen würde. Was passiert ist, sagt die Polizei noch nicht. Auf der Straße bekommt man keine Information, keine Ansage aus Lautsprechern. Das Radio weiß mehr: eine Amokfahrt. Im Netz weiß die Kleine Zeitung, dass ein Täter festgenommen wurde. Ich drehe also nicht um. Auch Presse darf nicht in das gesperrte Gebiet Herrengasse/Hauptplatz. Die Spurensicherung habe begonnen, erklärt eine Polizistin. Es beginnt zu regnen. Menschen wissen nicht so recht, wohin mit sich und kaufen sich Knirpse in den Modegeschäften in der Herrengasse, im nicht gesperrten Teil. Die Straßenbahnen stehen still, längst leer, eine klingelt vor sich hin, der Fahrer dreht das ab.

Kerzen und Blumen und ein "Graz trauert"-Ausdruck

Radio FM4

In der ersten Pressekonferenz sagt der Landespolizeidirektor zum Ermittlungsstand: Das war die Amokfahrt eines 26-jährigen Österreichers und es gibt keinen Zusammenhang mit Fundamentalismen, der Mann hätte eine Psychose nach familiärer Wegweisung. Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, ÖVP, beendet die erste Pressekonferenz mit einer Schweigeminute und zuvor mit der Bitte, keine weiteren Fragen zu stellen bis zur nächsten Pressekonferenz. Jene JournalistInnen, die fragen, bekommen dennoch Antworten. Dass ein Kind unter den Toten ist, wird mir bestätigt.

Krisenintervention dauerhaft im Einsatz: Unter der Telefonnummer 0316/877-6551 erreicht man ausgebildete Menschen, die weiterhelfen. Im Grazer Rathaus triffst du MitarbeiterInnen des Kriseninterventionsteams täglich von 08.00 bis 20.00 Uhr. Nach 20.00 Uhr kann das Kriseninterventionsteam via Notrufnummer 130 angefordert werden.

Ein Freund und Fotograf war zufällig in der Herrengasse zur Tatzeit. Er hat überlebt. Die Kamera ist ein Mittel, um sich Distanz zu verschaffen, wo keine Distanz möglich ist. Am Geländewagen hing ein Stofftuch, unter dem Auto ein Schuh. Das erzählt er, er zeigt mir die Fotos nicht und ich frage nicht darum. Er erzählt und ich muss ihn umarmen. Dabei sollte man Menschen nicht unbedingt umarmen in Ausnahmesituationen, habe ich mal gehört in "Grey's Anatomy". Man soll sie auch nicht auffordern, sich zu setzen. So viele PassantInnen und Geschäftsleute hätten unmittelbar geholfen, hätten Tücher über die Toten gelegt und erste Hilfe geleistet. Andere hätten die Smartphones gezückt und draufgehalten. Wie du reagierst, weißt du nicht.

Bodenmarkierung in Grazer Herrengasse nach der Amokfahrt

Radio FM4

Es beginnen Mutmaßungen. In der zweiten Pressekonferenz wird der Täter als "26-jähriger Österreicher mit bosnischem Bezug" bezeichnet, er ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist Kraftfahrer, erfährt man. Die privaten Details befremden mich. Wenige Stunden später ist der angebliche volle Name in Pressekreisen bekannt. Immer wieder wird auf die Herkunft angespielt, als ob diese Spekulation irgendetwas begreifbarer machen könnte. Es gibt eine Dramaturgie der Nachbereitung dieser entsetzlichen Tat. Einer preschte vor.

Es entsetzt und macht Angst, was der FPÖ-Bundesparteiobmann zu einem Zeitpunkt postet, als von offizieller Seite noch wenig bis nichts bekannt ist über ein mögliches Motiv des Amokfahrers in Graz. Kein Wort Heinz-Christian Straches in seinem ersten, später gelöschten "Kommentar" zu den betroffenen Menschen, nur Hetze. Der Sturm-Spieler Marko Stankovic antwortete in einem persönlichen Posting mit "Schämen Sie sich!!!". Ich lese David Schalkos Facebook-Einträge und bin ihm dankbar für Menschlichkeit und Widerrede gegen Hass. Etwas unendlich Trauriges ist geschehen und Hassparolen sind das allerletzte, an diesem Tag noch mehr.

Bodenmarkierung der Spurensicherung und niedergelegte Blume und Kerze Samstagabend in der Grazer Herrengasse

Radio FM4

In der Straßenbahn gegen neunzehn Uhr läuft die Tonbandansage des Niki-Lauda-Stimmenimitators zum Event am Spielbergring. Die Aufforderungen zu Boxenstop und Gas-geben sollte man jetzt vielleicht abdrehen. Doch es gibt garantiert Verträge zu dieser Werbung, die Laufzeiten regeln.

Ein Zettel klebt an einem Event-Plakat am Grazer Hauptplatz: "Der Graz-Prix ist abgesagt"

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Hauptplatz Graz, Samstagabend

Hunderte Menschen kommen zusammen am Abend in der Herrengasse, zünden Kerzen an, gedenken still, legen Blumen nieder. Jene Stellen, wo der 26-jährige Mann ihm unbekannte Menschen verletzt und getötet hat, sind am Pflaster markiert. Ich weiche aus ohne nachzudenken. Niemand spricht laut.

Sonntag

In der Nacht von Samstag auf Sonntag stehen junge Menschen stumm vor den Kerzengruppen in der Herrengasse und vor und um das Grazer Rathaus am Hauptplatz. Es ist sehr still in der Innenstadt. Größere Veranstaltungen wie der Multikulti-Ball wurden verschoben, auch kleine Veranstaltungen abgesagt. Um die Universität Graz, wo der Ball stattfinden sollte, finden sich gesprayte Parolen und das Identitären-Symbol.

Ein junger Rapper stellt einen Song auf YouTube, ein anderer bastelt aus Fotos eine Videocollage und lädt sie hoch.

Die einzige Reaktion, die Sonntag zu mir durchdringt, ist das Posting eines Freundes:

Textnachricht

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Ja, es war Alltag. Es ist Alltag. Und man muss irgendwie klarkommen. Wohnt man nicht in Graz und hatte am Wochenende nicht ständig das Radio an, bekam man die Nachrichten und ihre Dimension nicht mit.

Montag

Die Markierungen der Spurensicherung sind nicht mehr zu sehen in der Herrengasse, aber die in der Zweiglgasse. Menschen trauern. Die Kerzengruppen sind angewachsen. MitarbeiterInnen der Diözese Graz-Seckau beachten die Kerzen, kratzen das übergelaufene Wachs vom Pflaster. Ich rutsche fast aus, als ich mich ihnen nähere, das Wachs ist in der Sonne glitschig. Es macht nicht nur optisch Sinn, dass sich hier jemand permanent um diese Gedenkstätten kümmert.

Kerzen und Plüschtiere an der Stelle, wo vergangenen Samstag ein Kleinkind getötet wurde, vor der Stadtpfarrkirche in Graz. Und ein Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams

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Die Stadt Graz hat ein Kondolenzbuch eingerichtet und Menschen warten bis vor dem Rathaus, um sich einzutragen. Das Kriseninterventionsteam des Landes Steiermark ist auch für die PassantInnen da. Einer aus dem Team steht vor der Stadtpfarrkirche, hat vormittags Angehörige von Opfern betreut. Jetzt spricht er mit einem, wenn man das möchte. Er hört zu, er antwortet klug, er sagt nichts, wenn jemand fordert, dass der Täter nicht mehr auf der Welt sein sollte. Er ist ehrenamtlicher Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams, kommt aus der Obersteiermark und arbeitet bei der Bergrettung.

Kerzen vor dem Grazer Rathaus und Menschen stellen sich an, um sich ins Kondulenzbuch einzutragen

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Ein Jugendlicher mit seinem Skateboard hält inne bei einer der Gedenkstätten, die in der Grazer Herrengasse mit Kerzen und Blumen entstanden sind.

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Trauer in der Herrengasse Montagmittag

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Wie oft personifizieren wir Graz. Wie oft regt man sich auf über diese Stadt, als wäre sie ein Mensch, und wie oft umarmt man dann all die wunderschönen Dinge, die in dieser Stadt gemacht werden. Ja, es gibt dieses Graz und dieses Graz sind wir, die BewohnerInnen. Der vergangene Samstag sitzt tief. So schnell begreift man nicht. Man schaut und nimmt wahr. Es braucht Achtsamkeit und Würde in den Begegnungen. Und davon nimmt man jetzt viel wahr. Das offizielle Graz hat eine Trauerwoche begonnen. Ein Spendenkonto wurde eingerichtet. Kommenden Sonntag findet ein Trauerzug statt.

Das aufrichtige Beileid an die Angehörigen, die Familien und FreundInnen der Opfer. Alle Unterstützung ihnen.