Erstellt am: 22. 6. 2015 - 00:35 Uhr
Die Toten kommen
Heute also Symbolismus. Leere Särge, karge Worte, ein friedlicher Zug vors Bundeskanzleramt, ein kleines Dankeschön an die MitstreiterInnen, Angehörigen und Geistlichen. Keine echte Beerdigung.
Christian Lehner
Mit dem späteren Sturm auf den Platz der Republik vor dem Reichstag, mit dem Umrennen des Zauns, dem spontanen Ausheben von hunderten Gräbern, den anschließenden Familienpicknicks auf der Wiese, hatte das Zentrum für Politische Schönheit nichts mehr zu tun. Da war die Veranstaltung offiziell schon zu Ende. "Mal schauen, was jetzt passiert", raunte mir Philip Ruch, der Kopf der kurz ZPS genannten Künstlergruppe zu. Dann fiel der Zaun. Eine Megafonstimme bat noch um Zurückhaltung. Doch daran wollte sich niemand halten. Polizisten und Aktivisten stürmten in ungewohnter Eintracht in Richtung Reichstag. Kurz sah das aus, als rannten sie für eine gemeinsame Sache.
Umstrittene Kunstaktion: Die Toten kommen:Ein Grab und die Fahnen Europas.
Fünf Minuten vor dem Zaunsturm drängten sich noch hunderte Menschen friedlich um zwei weiße Särge, die das ZPS vor dem Kanzleramt positionierte. Kinder legten Blumen drauf. Ein Polizist neben mir sagte: "Eigentlich ne‘ jute Idee". Beamte der Rechtsmedizin hatten die Särge auf Leichen untersucht, die Bestattung von Toten wurde der Künstlergruppe erwartungsgemäß untersagt.
Christian Lehner
Dann am Rasen hinter dem Zaun sporadische Rangeleien zwischen Polizei und irgendeiner antifaschistischen Splittergruppe einer antifaschistischen Spilttergruppe. "Nix Außergewöhnliches in Berlin, das ist immer so", erklärte mir ein älterer Herr im schwarzem Anzug, während in 100 Meter Entfernung die Wogen hoch gingen und nebenan Familien friedlich im Gras saßen. Eine Frau beschwert sich über die Krawallmacher. Sie sei hier, um zu trauern. Wieder zu Hause lese ich, dass ca. 50 Menschen festgenommen wurden, darunter auch einige Journalisten. Ihre Aktionen seien nicht durchgeskriptet, erklärte ein ZPS-Mitglied tags darauf im Radio.
15 Uhr, Unter den Linden, Ecke Charlottenburger Straße. Der Trauerzug macht sich auf in Richtung Kanzleramt - eingeklemmt von einer Massen-Yoga-Session am Brandenburger Tor und einer Opernveranstaltung am Bebelplatz, sowie umzingelt von der Fête de la Musique, die in der ganzen Hauptstadt tobte. Gut 5.000 Demonstranten waren gekommen. Die Polizei untersucht Rucksäcke und selbstgebastelte Särge. "Seid nicht kreativ", riet das ZPS den Teinehmern noch vor Beginn der heutigen Veranstaltung halbironisch via Social Media. Die Behörden hatten das Mitbringen von Schaufeln, Särgen und anderen Utensilien untersagt. Dennoch lies man die meisten Demonstranten vor Ort gewähren. Viele Menschen trugen Trauerkleidung, einige ernste Mienen. Und doch wirkte dieser Marsch phasenweise wie ein Karnevalsumzug, ungewollt ausgelassen und auch unbedarft und orientierungsslos.
Christian Lehner
Aber das soll nicht vom Wesentlichen ablenken. Noch am Sonntag erschien eine erschütternde Reportage in der taz, die den Rechercheergebnissen des ZPS nachspürte. Darin wird geschildert, was mit den toten Flüchtlingen in den Grenzregionen geschieht. Mit dem Aufdecken dieser horriblen Zustände für die Opfer, ihre Angehörigen und die lokalen Helfer und Behörden hat das Zentrum für Politische Schönheit eine journalistische Leistung erbracht, wie sie bisher den meisten Profis nicht gelungen ist.
Überall in Europa poppen nun Bilder von symbolisch angelegten Gräbern auf. Es wird über den Horror gesprochen, ohne dass dafür ein Schiff mit hunderten Menschen kentern musste. Auch das sollten jene bedenken, die dem ZPS Profilierungssucht, Pietätlosigkeit und Instrumentalisierung der Toten vorwerfen.
Das ZPS plant weitere Beerdigungen von bei der Flucht umgekommenen Menschen in ganz Europa. Bei Wunsch der Angehörigen sollen diese auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Finanziert werden diese Begräbnisse über Spenden. Mit weiteren Aktionen ist zu rechnen.