Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Vom Niedergang Venezuelas"

Hanna Silbermayr

Lateinamerika, Migration, Grenzen und globale Ungleichheiten

2. 7. 2015 - 11:20

Vom Niedergang Venezuelas

Ein bewusst organisierter Wirtschaftskrieg, sagt die Regierung. Das nicht funktionierende Wirtschaftsmodell, sagen Kritiker. Ausbaden muss die Krise vornehmlich die venezolanische Bevölkerung.

Bereits in den frühen Morgenstunden finden sich Menschen vor den Toren des Supermarktes ein, um am Vormittag eine lange Schlange zu bilden, die auch am Nachmittag noch quer durch die Tiefgarage reicht. In der Schlange zu stehen bedeutet: warten, und zwar stundenlang. Der Eingang zum Abasto Bicentenario, einem vom venezolanischen Staat betriebenen Supermarkt, wird von Militärs bewacht - die Waffen halten sie griffbereit.

Die Menschenschlange reicht von der Tiefgarage über die langen Gänge des Erdgeschoßes bis in den 1. Stock, wo sie wiederum von Militärs und Sicherheitspersonal an den halb leeren Supermarktregalen vorbei geleitet wird und schließlich an einer der unzähligen Kassen endet. Wie lange die Schlange an diesem Samstagvormittag ist, lässt sich schwer eruieren. 200 Meter, 500 Meter, 1 Kilometer, länger? Sicher ist: die Schlangen existieren und sie sind lang.

Venezolaner stehen vor einem Supermarkt Schlange.

© Hanna Silbermayr

Mai 2015: Venezolaner stehen vor einem Supermarkt Schlange. Inzwischen werden diese Schlangen oft in Tiefgaragen umgeleitet. Wegen der heißen Sonne, sagt die Regierung. Um sie unsichtbar zu machen, sagen Kritiker.

Gescheitertes Wunder

Nach dem Tod des langjährigen Präsidenten Hugo Chávez versprach dessen Nachfolger Nicolas Maduro wirtschaftliches, politisches und soziales Wachstum, sprach in seiner Antrittsrede von einem "nationalen Wunder". Davon ist heute, zwei Jahre später, allerdings wenig zu spüren. Man könnte auch sagen, genau das Gegenteil wäre eingetreten: Venezuela ist mehr denn je im Niedergang begriffen, der Sozialismus seinem Ende nah, auch wenn das manch einer so nicht wahrhaben will.

Dabei ist die Situation offensichtlich und alamierend zugleich: Erst Mitte Februar gab die venezolanische Zentralbank bekannt, dass die Inflation des Vorjahres bei 68,5 Prozent rangierte, also bei einer der höchsten Inflationsraten weltweit. Anfang des Jahres setzte die Ratingagentur Moody's Venezuelas Kreditwürdigkeit deshalb von Caa1 auf Caa3 herab. Das bedeutet: Staatspleite im Verzug.

Offizielle Zahlen aus dem laufenden Jahr wurden bisher von der venezolanischen Zentralbank nicht veröffentlicht, doch laut Schätzungen von Experten und des Internationalen Währungsfonds wird Venezuela das Jahr 2015 mit einer Inflation im dreistelligen Zahlenbereich beenden.

Ein Anhänger der Bolivarianischen Revolution mit Chávez-Maske.

© Hanna Silbermayr

1. Mai, Tag der Arbeit: Ein Anhänger der Bolivarischen Revolution mit Maske des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez.

Leidtragende Bevölkerung

Auf der Webseite der Drogerie Farmatodo kann man nach Produkten suchen und sehen, ob sie verfügbar sind oder fehlen. Etwa, ob es ein bestimmtes Shampoo oder Pampers-Babywindeln irgendwo in Caracas gibt.

Die Auswirkungen der Krise treffen vornehmlich die venezolanische Bevölkerung. Immer schwieriger wird es, Produkte des täglichen Bedarfs in den Supermärkten des Landes zu finden. Milch, Shampoo, Fleisch, Zucker, Seife, Öl, Kaffee, Margarine und Toilettenpapier? Fehlanzeige. Selbst das bei den Venezolanern so beliebte Maismehl und Babywindeln sind kaum zu bekommen. Lange Menschenschlangen sammeln sich darum vor den hauptsächlich staatlichen Supermärkten, um zumindest irgendetwas davon zu ergattern - nur dort findet man noch Mangelprodukte.

Einkauf in Venezuela

© Hanna Silbermayr

Vier Stunden Schlange-Stehen für Kaffee, Zucker, Maismehl, Milch.

Das Umfrageinstitut Datanálisis hat erst kürzlich ermittelt, dass Venezolaner durchschnittlich fünf Stunden pro Woche alleine damit zubringen, knapp gewordene Produkte zu organisieren. Auch ich bin im Abasto Bicentenario vier Stunden Schlange gestanden. Mein Einkauf: zwei Packungen Kaffee, zwei Kilo Zucker, zwei Packungen Maismehl, drei Liter Milch, zwei Deos. Was es wieder nicht gab: jegliche Art an Fleisch, Shampoo, Seife, Öl, Margarine und Toilettenpapier.

Durch den Mangel an Waren hat sich inzwischen ein neuer Unternehmenszweig etabliert: der "Bachaqueo". Das bedeutet, dass Menschen die ihnen zugestandene Ration an knapp gewordenen Waren kaufen, auch wenn sie diese eigentlich nicht brauchen. Später findet man diese Produkte auf dem Schwarzmarkt wieder: zu horrenden Preisen. Manche Familien, so Erhebungen von Datanálisis, hätten gar keine andere Wahl, als sich dieser illegalen Geschäftsmethoden zu bedienen, um über die Runden zu kommen. 30 Prozent aller "Bachaqueros" gehören der ärmsten Gesellschaftsschicht an.

Denn die Regierung versucht zwar den Auswirkungen der Krise entgegenzuwirken, hat etwa veranlasst, den Mindestlohn mit Juli von 5634,47 auf 7421,67 Bolivares anzuheben. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung müssen mit diesem Lohn auskommen. Doch die Inflation frisst alle Reserven auf: Experten zufolge übersteigt der Wert des Warenkorbs den Mindestlohn um ein Vielfaches. Laut dem Dokumentations- und Analysezentrum der venezolanischen Lehrervereinigung brauchte man im Mai ganze 24.694,21 Bolivares um sich den Warenkorb leisten zu können. Das sind 3,7 Mindestlöhne (im Mai lag der Mindestlohn bei 6.746,98 BsF, ab 1. Juli gilt der höhere Wert). Etwas mehr als 30 Prozent der Produkte des Warenkorbs fehlen komplett und die Preise sind weiter im Anstieg begriffen.

Venezolaner stehen vor dem Tor zu einem geförderten Wohnhaus mit dem Gesicht von Hugo Chavez.

© Hanna Silbermayr

Der verstorbene Präsident Hugo Chávez ist omnipräsent. Seine Augen blicken wachend von den unzähligen Sozialbauten.

Überwachungsmaßnahmen

Was Produkte kosten und wieviel Prozent vom Mindestlohn das sind.

Liter Milch:
20,16 BsF (0,27 %)

12 Rollen Toilettenpapier:
100, 86 BsF (1,36 %)

Autoreifen:
14.000 BsF (118,64 %)

BigMac:
220 BsF (2,96 %)

500 Gramm Spagetthi:
139,90 BsF (1,89 %)

20 Beutel Früchtetee:
1.011,35 BsF (13,63 %)

Liter Benzin:
0,097 BsF (0,00130 %)

Kilo Huhn:
140,00 BsF (1,89 %)

Kilo Schweinelende:
845,00 BsF (11,39 %)

30 Eier:
260 BsF (3,5 %)

8 Stück Tampons:
1473,68 BsF (20 %)

1 Paar Turnschuhe:
+/-7000 BsF (94,32%)
------------

Liste der Produkte, die nur in Rationen verkauft werden und Bekanntgabe über Wochentage, an denen Personen mit der entsprechenden Personalausweisendziffer diese Waren kaufen dürfen.

Es verwundert wenig, dass Präsident Nicolas Maduro die Ursachen der aktuellen Krise in einem Wirtschaftskrieg oppositioneller Politiker und Unternehmer gegen seine Regierung und den Sozialismus verortet.

Um den Schmuggel und teuren Weiterverkauf subventionierter Produkte zu unterbinden, begann die Regierung deshalb im vergangenen Jahr, Maßnahmen gegen Hamsterkäufe einzuführen. Bereits zuvor musste bei jedem Einkauf die Personalausweisnummer genannt werden. Doch jetzt können knappe Waren nur noch an bestimmten Tagen von bestimmten Personen gekauft werden. Als Regulierungsmechanismus dient die letzte Ziffer der Personalausweisnummer. Jene Venezolaner, deren Nummer mit 0 und 1 endet, sind am Montag dran. 2 und 3 dürfen dienstags Mangelware kaufen, 4 und 5 am Mittwoch und so weiter. Zusätzlich wurden Fingerabdruckscanner in den Supermärkten installiert. So wird sichergestellt, dass keiner mehr als die wöchentlich zugestandene Ration an Waren ersteht.

Jenen Geschäftsinhabern, die ihre Mitarbeiter nicht dazu anhalten, sich an diese Regeln zu halten, haben mit Konsequenzen zu rechnen. So geschehen Anfang Februar, als der venezolanische Geheimdienst die Manager der privaten Apotheken-Kette Farmatodo festnahm. Der Vorwurf: Sie hätten ihre Kunden gezwungen, vor den Geschäften Schlangen zu bilden, um den Eindruck von Produktknappheiten zu vermitteln und Chaos zu fördern. Wenig später wurden sie freigelassen. Seitdem müssen bei einem Einkauf in diesem Geschäft – und sei es nur eine Flasche Wasser oder Orangensaft – ebenfalls Fingerabdrücke und Personalausweisnummer abgegeben werden. Die Schlangen sind nicht verschwunden.

Eine Drogerie in Caracas, Venezuela. Die Regale sind mit einem einzigen Produkt gefüllt.

© Hanna Silbermayr

Geschäften, die aufgrund von Warenknappheit Regale leer lassen, drohen Strafen. Das ergibt skurrile Bilder, so wie hier in einer Drogerie in Caracas.

@hannasilbermayr

auf Twitter über Venezuela

22 May 2015 · 10:12am
Der #Dollar-Wert ist am Schwarzmarkt in #Venezuela in rasantem Anstieg begriffen. Anfang Mai war ein Dollar 280 Bs wert, heute über 400 Bs.

24 May 2015 · 4:32pm
Bin jetzt registriert: eine 0,5 l Flasche Orangensaft durft ich heut nur gegen Abgabe meiner Passdaten und Fingerabdrücke kaufen. #Venezuela

5 Jun 2015 · 8:48am
Venezolanisches Gebet: "Präsident Nicolas Maduro, gib mir bitte einen Kühlschrank, habe kein Geld, um ihn zu kaufen" pic.twitter.com/GMYWxd2iJc

10 Jun 2015 · 12:28pm
Letztes Jahr gab es in #Venezuela laut NGOs fast 25.000 Morde. In den 16 Jahren der «Bolivarischen Revolution» 252.073, Tendenz steigend.

12 Jun 2015 · 5:06pm
8 Tampons kosten in Venezuela ab sofort 1368 Bs. Das sind offiziell 192, inoffiziell 3 €. Aber egal, gibt’s eh nirgendwo zu kaufen #venkrise

12 Jun 2015 · 12:51pm
Was ich in Venezuela immer wieder sehe: Männer, die sich ihre Ration der rar gewordenen Damenbinden kaufen. Endlich wird diese Welt gerecht.

13 Jun 2015 · 8:11pm
Ein Caracas-Tag: Schlange-stehen in der Früh. Danach ein Toter, bewaffneter Handy-Raub. Dann Polizei auf der Suche nach Kriminellen. Unfall.

16 Jun 2015 · 4:43pm
Auch wenn's euch nix angeht, muss ich sagen: Menscup ist in einem Land, wo es kaum Tampons, Binden oder Klopapier gibt, genialste Erfindung.

17 Jun 2015 · 9:25am
Der deutsche Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich, Urheber «Sozialismus des 21. Jahrhunderts», sagt Venezuelas Sozialismus ein Ende voraus.

21. Juni 2015 · 12:00
Meine Ausbeute nach 4 Stunden Schlange-Stehen: Kaffee, Maismehl, Deo, Zucker, Milch. Klopapier gab es wieder keines. pic.twitter.com/JSEMTTSzJL

22 Jun 2015 · 12:55pm
Der Warenkorb für eine Familie kostet in #Venezuela 42.846,91 Bolivares. Das ist das 5-Fache vom monatlichen Mindestlohn von 7.421,66 BsF.

22 Jun 2015 · 1:26pm
Die #Venezolaner werden am 6. Dezember ein neues #Parlament wählen, wie die Präsidentin der nationalen Wahlbehörde heute bekannt gab.

Dass es sich um einen Wirtschaftskrieg handelt, kann darum auch nur die halbe Wahrheit sein. Denn Venezuela, das 96 Prozent seiner Devisen aus dem Erdölexport bezieht und den Großteil seiner Alltagsgüter importieren muss, gehen die Dollar aus. Immer weniger Geld ist vorhanden, um die Importe zu bezahlen. Inzwischen müssen in Krankenhäusern selbst lebenswichtige Operationen abgesagt werden, da keine Anästhetika oder wichtige Medikamente mehr vorhanden sind. Schon vor dem Fall des Erdölpreises war die Lage prekär. Jetzt verstärkt sie sich noch.

Ausländische Devisen sind in Venezuela an einen festen, von der Regierung vorgegebenen Wechselkurs von derzeit 6,3 Bolivares gebunden - dieser ist aber praktisch inexistent. Am Schwarzmarkt wird der Dollar unterdessen weitaus höher gehandelt: Mitte 2014 bekam man für einen Doller etwa 100 Bolivares. Heute, nur ein Jahr später, fast fünfmal so viel, wobei sich der Dollarwert innerhalb der letzten Wochen von 200 auf über 450 Bolivares mehr als verdoppelt hat.

Diese Entwicklung ist der restriktiven Devisenfreigabe des Staates geschuldet. In letzter Zeit verteilt die Regierung nur noch selten die Erlaubnis zum offiziellen Dollar-Kauf nach einem begünstigten Wechselkurs. Diesen können Unternehmer beantragen, um Waren zu importieren. Doch selbst sie kommen kaum noch an Dollar heran. Das treibt die Menschen immer stärker auf den Schwarzmarkt. Denn wer Dollar braucht, etwa für eine Reise ins Ausland, bekommt sie nur noch dort. Doch mit ausländischen Währungen wird auch wild spekuliert. Denn für Dollar-Noten, die man vor zwei Monaten gekauft hat, gibt es heute mehr venezolanische Bolivares, als die Dollar-Noten ursprünglich kosteten. Andererseits hat die Bevölkerung Angst vor den Konsequenzen der Wirtschaftskrise und wer kann, sucht Zuflucht in sicheren Währungen. Um nicht alles zu verlieren, sollte es tatsächlich zu einem Ende kommen.

Regierungskritische Venezolaner bei einer Demonstration der Opposition.

© Hanna Silbermayr

30. Mai: Regierungskritische Venezolaner bei einer Kundgebung. Sie wurde vom inhaftierten Oppositionspolitiker Leopoldo López aus dem Gefängnis heraus initiiert. Er wird beschuldigt, für die Proteste im letzten Jahr verantwortlich zu sein.

Auf Devisensuche

Während die Bevölkerung zittert, versucht Präsident Nicolas Maduro, neue Geldgeber zu finden. Zu Jahresbeginn besuchte er deshalb China, Russland und den Iran, allesamt enge Vertraute seines verstorbenen Vorgängers Hugo Chávez, und bettelte geradezu um finanzielle Unterstützung. Wirklich erfolgreich war die Tour allerdings nicht: lediglich China stellte 20 Milliarden Dollar in Aussicht, jedoch nicht zur freien Verfügung, sondern für Infrastruktur- und Landwirtschaftsprojekte.

Also muss Venezuelas Regierung andere Einnahmequellen finden, um sich aus der anhaltenden Krise herauszuwinden. Zu Jahresbeginn wurde deshalb der Devisenhandel gelockert. Die finanzielle Lage hat diese Maßnahme allerdings nicht entspannt. Am Schwarzmarkt steigt der Dollar-Wert beständig weiter.

Nicolas Maduro kündigte zudem an, die subventionierten Benzinpreise erhöhen zu wollen. Wieviel Geld diese Maßnahme tatsächlich in die Haushaltskasse spülen würde, ist ebenso fraglich: für 60 Liter Benzin zahlt man heute gerade einmal einen Dollar. Es heißt, das Volk würde unzufrieden, würde man in Venezuela den Benzinpreis anheben. Für Jahresende sind Parlamentswahlen angesetzt. Schon Ende 2014 waren Maduros Beliebtheitswerte auf 22 Prozent abgerutscht. Verärgerte Bürger kann er sich 2015 also eigentlich nicht leisten und greift derzeit lieber auf die staatlichen Goldreserven zurück, um das Volk bei Laune zu halten - diese sind von März 2014 bis März 2015 um ganze 2 Milliarden Dollar geschrumpft.

Es scheint, als wären dies die letzten verzweifelten Versuche der sozialistischen Regierung, von den wirtschaftlichen Problemen im Land abzulenken. Kritische Stimmen - sowohl in, als auch außerhalb der Partei - werden ignoriert. Dabei wären genau jetzt Gespräche darüber wichtig, was aus Venezuelas Wirtschaft werden soll und wer die Verantwortung für die Krise trägt. Unter diesen Voraussetzungen sagen selbst ausgewiesene Experten, wie der deutsche Soziologe Heinz Dieterich, der einst den Begriff "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" prägte, Maduros Präsidentschaft ein Ende voraus. Der Grund: Korruption auf allen Ebenen und in allen Lagern. Bezahlen tut die Krise die Bevölkerung. Zwar geben viele Venezolaner an, Chavistas zu sein, mit dem Madurismo können sie aber nicht mehr viel anfangen.

Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und Sicherheitskräften im vergangenen Jahr waren dabei womöglich nur ein erstes Auflehnen der Bevölkerung gegen eine verfehlte Wirtschaftspolitik.