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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

15. 6. 2015 - 14:11

The daily Blumenau. Monday Edition, 15-06-15.

Nach praktisch fixer Qualifikation und Kader-Klarheit ist nun die strategische Nachlese erste Fußballbürgerpflicht.

#fußballjournal15

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Hier die Live-Begleitung zum gestrigen ÖFB-Sieg.

Weitere Analysen zu Russland - Österreich hier auf abseits.at und auf 90minuten.at bei ballverliebt.eu und auf laola1.at, samt Kommentar.
Und die Neundlinger-Analyse bei derstandard.at

Fix bei der Euro sind drei Torhüter (Almer, Özcan, Lindner oder Stankovic), die vier Innenverteidiger Dragovic, Hinteregger, Wimmer und Prödl, die Außenverteidiger Klein und Fuchs, dazu der zum Rechtsverteidiger umbaubare Jungspund Lazaro. Im zentralen Mittelfeld haben Alaba, Baumgartlinger, Kavlak, Ilsanker und Junuzović ein Ticket, im Offensivbereich Arnautovic, Harnik, Sabitzer, Hinterseer, Janko und Okotie. Offen wären (falls überhaupt, die Lazaro-Lösung macht strategisch Sinn) die schwächelnden Back-Ups der Außenverteidiger und ein weiterer Stürmer: Djuricins Chance - oder vielleicht empfiehlt sich noch jemand wie Pusic oder Gregoritsch Junior. Für einen allfälligen Mittelfeld wird Koller eher auf bewährte Kräfte zurückgreifen, Jantscher oder Burgstaller haben Chancen, Leitgeb wird wohl abfallen. Weimann, Ivanschitz und Pogatetz sind draußen. Ein Überraschungs-Ticket für einen Aufsteiger ist möglich.

Seit Sonntag 20:00 ist es so: wenn Österreich sein nächstes Match (daheim gegen Moldawien, am 6. September in Wien) gewinnt und zeitgleich Russland daheim gegen Schweden nicht über ein Remis hinauskommt, dann ist auch rechnerisch nichts mehr zu machen - EM-Qualifikation, erstmals. Und das mehr als vorzeitig.

Nur England hat aktuell eine bessere Ausgangslage für den Slot des ersten sportlich Qualifizierten. Und auch ein russischer Sieg zögert das Unvermeidbar nur kurz hinaus.

Eine noch zuvor wirksam werdende Folge: die Ausgangsposition für die nächste WM-Quali, für das Turnier 2018 in Russland, die schon am 25. Juli gelost wird, ist wegen der guten Leistungen hervorragend: das ÖFB-Team landet in Topf 2.

Weil das Personal-Gerüst schon steht (wenn sich keiner verletzt, sind zumindest 20 Plätze - siehe rechte Spalte - jetzt schon strategisch mit der Euro auseinandersetzen. Und das gestrige Match ist ein guter Aufhänger für schon erfolgte und noch nötige Besserungen.

Abteilung leicht auszurechnendes Aushebeln

Die Augenhöhe-Gegner, mit denen sich Koller um die Qualifikation match/e, sind/waren allesamt taktisch leicht auszurechnen. Irland, Schweden und Russland auszuchecken und zu analysieren ist keine Herkules-Aufgabe. Wie aus der von minder kompetenten Teamchefs geprägten jüngeren Vergangenheit sattsam bekannt ist, kann man aber auch das ordentlich vergeigen.

Andererseits: die (neben Deutschland, die in dieser Hinsicht außerhalb der Wertung agieren) strategisch anspruchsvollste Mannschaft, nämlich Montenegro besiegte Koller mit dem vielleicht allerbesten Spiel seiner Truppe dank einer an die Erfordernisse angepassten Strategie, mit einer in der Offensive auf ein 3-3-4 geschaltetes System.

Gestern, gegen Russland war, wie hier angemerkt keine Rede vom zwischen die Innenverteidiger zurückkippenden Sechser (egal ob Ilsanker oder Baumgartlinger) - die mittlerweile mit einer gigantischen Spielsicherheit und Aufbaufähigkeit ausgestatteten Herren Dragovic und Hinteregger erledigten den Job der letzten Linie allein (samt seinen erwünschten Folgen, den weit vorne platzierten Außenverteidiger, die wiederum die Außenstürmer freispielen konnten). Anders als im Hinspiel, wo man's diesbezüglich übertreib.

Soll heißen: vielleicht ist es sogar mühsamer die stabilen, eingefahrenen Systeme auszuhebeln als einen fantasievollen risikofreudigen stunt, der immer eine Achilles-Ferse aufweist. Das ist die Kür, das andere die Pflicht. Und die Pflicht, die klappte gegen Capellos simples System einmal ziemlich (Hinspiel) und einmal außerordentlich (gestern) gut.

Abteilung überlanges Still/Innehalten

Es war der einzige Makel des gestrigen Abends: dreimal hatte das ÖFB-Team den Gegner am Rande des Nervenzusammenbruchs, dreimal ließ man ihn gewähren, sich erholen und wieder zurückkommen. Das hat mit der noch nicht vorhandenen Fähigkeit zu tun, die Spannung ein gesamtes Spiel lang hochzuhalten - Kollers Mannschaft braucht deutlich zu viele Pausen, Zehnminüter der inneren Einkehr.

Das ist dann, wenn es drum geht, einem Gegner sein Tempo aufzuzwingen oder Luft aus einer hektischen Partie zu nehmen, ein wichtiges Stilmittel. Diese breaks aber zum Vorteil des Gegners anzusetzen, ist weniger im Sinn des Erfinders.

Gestern wirkte es so, als würde der ÖFB-Mannschaft der Killer-Instinkt fehlen, vielleicht war Baumgartlingers Roller nebens leere Tor das Symbolbild für diese noch fehlende Fähigkeit.

So wurde Halbzeit 2 zu einer zwar kontrolliert geführten, aber doch überlang dauernden Abwehr-Maßnahme - die bei höherer Qualität des Gegners auch zu einer klassischen Schlacht führen hätte können.

Diese Haltung wiederum liegt in einem anderen Prinzip, das Koller den Seinen eingebläut hat, begründet: nach einer Führung einmal sachte verwalten, lieber 25 Minuten lang ein 1:0 gegen einen anrennenden Gegner verteidigen anstatt aktiv auf ein zweites, entscheidendes Tor zu spielen. Auch das trägt nicht gerade dazu bei, dass das ÖFB-Team den Killer-Instinkt entwickelt, der die großen Teams von den Mittelgroßen unterscheidet.

Abteilung personelle Abhängigkeiten

David Alaba ist es nicht. Schon wieder nicht.
Das zeigte das zweite wichtige Match ohne ihn.
Alaba ist als Person, als Antreiber, als taktgebender Quarterback nicht ersetzbar, seine Position aber ist es. Der Koller-Kader hat genug Qualität das abzufangen. Ähnliches gilt auch für den Tormann, dann - in etwas geringerem Maße - für die offensiven Außen und den Stoßstürmer, in noch geringerem Maß für die Innenverteidiger. Überall dort ist die Bank gut besetzt - den Spezial-Fall der schwach besetzten Außenverteidiger außen vor gelassen.

Es gibt, und das zeigte sich gestern wieder einmal, nur eine Position, die kein anderer so auszufüllen versteht wie der ein, der sie spielt. Wenn also Zlatko Junuzović einmal ausfallen sollte, dann wird Koller sein System ändern müssen; was sonst nie der Fall wäre.

Junuzović ist nicht ersetzbar. Er, der Sechser, Achter und Zehner in einem ist und sein kann, ist das Knie dieses Teams: Versuche mit Hinterseer oder Leitgeb zeigten wie weit weg vom Ideal man sich dann bewegen würde, mit Kavlak, Ivanschitz oder Weimann, aber auch einem einrückenden Arnautovic hat's Koller erst gar nicht probiert. Hinterseer versteht es ansatzweise das defensive 4-4-2 Kollers auszufüllen, wo Junuzović als vorderster Akteur neben dem Center-Stürmer Pressing betreibt, während sich die beiden Flügelstürmer neben die zentrale Mittelfeld-Achse zurückfallen lassen, um so eine zweite Viererkette vor der ersten zu bilden. Junuzović' Rolle im Offensivspiel, das freigeistige Überall-Auftauchen-Können/Müssen, beherrscht er nicht; weil das - in Österreich - keiner kann.

Koller kann sein offensives 4-2-3-1 nur mit Junuzović spielen, seiner einzigen personellen Abhängigkeit.

Abteilung schnelles Umschalten und Tempo

Ich hab's gestern schon während des Spiels angemerkt: wenn es erst in der 80. Minute die erste Karte gibt und Arnautovic seinen geliebten Standfußball-Tricks auspacken kann, dann fehlt es dem Spiel an Tempo und Körperlichkeit. Was von den Russen ausging, von der Koller-Elf aber gern angenommen wurde. Das war gegen Irland oder Schweden z.B. auch schon andersrum, sowohl aktiv als auch passiv.

Auffallende Gemeinsamkeit: Koller passt seine Spielanlage diesbezüglich lieber dem Gegner an.

Vorteil: durch diese Art von taktischer Manndeckung läuft man (sofern das Potential hohes Tempo zu gehen vorhanden ist; und das ist meist der Fall) keine Gefahr eine Überraschung zu erleben.
Nachteil: das aktive Überraschungs-Moment fällt weg. Österreich wird dann stark, wenn der Gegner - wie die gestern anfänglich inferioren Russen - dazu einlädt.

Diese fehlende Eigeninitiative wird auch immer dann schlagend, wenn sich der Gegner neu formiert, personell oder taktisch umstellt oder eine andere Änderung vornimmt. Das sind die Spielphasen, in denen das ÖFB-Team in einen Beobachter-Modus zurückfällt und sich eher treiben lässt, denn - quasi automatisiert - zu reagieren. Das passiert in der Regel erst nach direkten Eingriffen des Coaches.

Nun ist Marcel Koller, und das war sein Hauptmakel in der WM-Campaign, selber keiner, der schnell reagiert. Seine damalige Zögerlichkeit hat er mittlerweile überkommen, er wechselt zwar immer noch ungern vor der 65. Minute, ordnet aber die Mannschaft mittlerweile gern von der Seitenlinie aus neu.

Hier fehlt zum echten Klasse-Team noch zweierlei: zunächst eine Mannschaft, in der sich einzelne Leader (und ich denke da an Dragovic, der das in seinem Bereich auch tut, an Alaba und Baumgartlinger und auch an den diese Art von Verantwortung noch scheuenden Junuzović) trauen, früh erkannten Änderungen auch schnell zu begegnen; und dann ein Coach, der das Team nicht erst durch die (siehe oben) zehn Minuten des Lavierens schickt, ehe er es neu sortiert.

Der Rest ist Freude und natürlich gewachsene Selbstsicherheit

Vieles, was früher auch angesichts des verdienten Erfolges zum Kopfschütteln Anlass gab, existiert heute nicht mehr. Mittlerweile ist ein Team gewachsen, das die nötige Demut (die aus dem Wissen eines jederzeit möglichen Absturzes, eines Rückfalls in alte Zeiten genährt wird), die nötige Selbsteinschätzung (des eigenen Könnens, auch im Vergleich zu dem der Anderen) und die nötige Eigenverantwortung (die Erkenntnis dass Gejammer über Außeneinflüsse nur die eigene Leistung runterdreht) zu einem Mix zusammenführt, der schon deutlich an die bestmöglichen Vorbilder (die deutschen Weltmeister unter Löw in ihren besten Momenten) erinnert.

Die Möglichkeit einer Selbstüberschätzung, wie sie hier skizziert wird, ist eine Option - aber ich bin rein gefühlsmäßig ziemlich sicher, dass sie so bald nicht gezogen werden wird. Zu langsam und stetig hat sich die aktuelle Spieler-Generation dort hinaufgearbeitet, wo sie jetzt steht, zu stark verinnerlicht haben sie die klaren und selbstkritischen Grundsätze Kollers, zu deutlich ist der Unterschied zum Hudriwusch voriger Chef-Coaches, zu langfristig und zu international planen die Führungsspieler ihre Karrieren als dass sie in typisch österreichische Fallen gehen könnten.

Fakt ist, dass das ÖFB-Team selbst mit dem, was es derzeit kann/hat in ein EM-Turnier gehen könnte und Chancen aufs Achtelfinale hätte.

Fakt ist aber ebenso, dass man bei nur wenigprozentiger Steigerung in entscheidenden Bereichen sogar das Potential zur Turnier-Überraschung hätte.